Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
dies gelang.
8. Warum wollte Willy Brandt «Mehr Demokratie wagen»? An die Stelle von Adenauers «Keine Experimente» setzte der erste sozialdemokratische Kanzler der Bundesrepublik, Willy Brandt, im Herbst 1969 die Devise «Wir wollen mehr Demokratie wagen». Nicht nur um die Bewahrung bestehender, sondern auch um das Erstreiten neuer Freiheiten sollte es gehen. Es war die hochfliegendste Regierungserklärung in der Geschichte der Bundesrepublik, und sie spiegelte die weltweite Aufbruchstimmung der damaligen Zeit. Nur wenige Monate zuvor hatte der erste Mensch den Mond betreten, eine technische Meisterleistung, welche die Menschheit ohne Experimentierfreude niemals hätte erreichen können. Wenn der Mensch so seine Grenzen sprengte, dann sollte doch auch auf der Erde mehr machbar sein als bisher. Aufbruch zu neuen Ufern, Mitverantwortung, Modernisierung der Gesellschaft, Ausbau freiheitlich-demokratischer Traditionen – ein Pathos des Neuanfangs umgab den Machtwechsel von 1969. Tatsächlich bedeutete er eine wichtige Bewährungsprobe der Bundesrepublik und läutete die zweite Lebensphase der bundesdeutschen Demokratie ein. Die Kernbotschaft im Wahlkampf war: Wechsel. Und die FDP, das Zünglein an der Waage, behauptete auf ihren Plakaten keck «Wir schneiden die alten Zöpfe ab». Mit der Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten im März 1969 hatte sich die Wechselstimmung bereits Bahn verschafft. Sie war ein Seismograph dafür, dass sich etwas veränderte. Nach seiner Wahl sagte Heinemann für konservative Ohren Ungehöriges: «Einige hängen noch immer am Obrigkeitsstaat (…) Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte.»
Innerhalb kürzester Zeit war das Bündnis zwischen SPD und FDP geschmiedet, und die neue Regierung erreichte, dass sich die Republik wandelte, dass der Sozialstaat ausgebaut und der Rechtsstaat liberalisiert wurde. Verkrustete Strukturen wurden aufgebrochen, viele Probleme gelöst und dabei neue geschaffen. Denn «Mehr Demokratie» und die Reformeuphorie kosteten Geld, das mit der 1973 einsetzenden Weltwirtschaftskrise bald nicht mehr so reichlich vorhanden war. Bis dahin jedoch befand sich die Republik im Aufbruch. Politiker versprachen Utopien und verdeutlichten, dass Demokratie nichts Statisches war, sondern etwas Dynamisches, das immer weiter entwickelt werden musste. Angesichts der unruhigen Zeiten der «68er-Bewegung» machte die sozialliberale Regierung ein Angebotan die junge, kritische Generation – sie sollte die liberale Demokratie annehmen und auf evolutionärem Weg ständig verbessern. Auch diese Integrationsleistung darf nicht gering geachtet werden und konnte vermutlich nur durch die Person Willy Brandts, der dem Widerstand gegen Hitler angehört hatte und als eine moralische Instanz galt, aber vom politischen Gegner viele Schmähungen ertragen musste, bewirkt werden.
9. Was ist ein konstruktives Misstrauensvotum? Der Artikel 67 des Grundgesetzes regelt ein Glanzstück deutschen Verfassungsrechts: Die Abberufung einer amtierenden Bundesregierung wird nur dann zugelassen, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages – die so genannte Kanzlermehrheit – im Stande ist, einen Nachfolger des amtierenden Kanzlers zu wählen. Diese Idee ging im Parlamentarischen Rat auf Carlo Schmid (SPD) zurück und war eine Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik, denn dort hatte es diese «konstruktive», auf Stabilität angelegte Regelung nicht gegeben – Kanzler konnten fast nach Belieben gestürzt werden, ohne eine Alternative präsentieren zu müssen, was das parlamentarische System schwächte und in Verruf brachte. Zwei konstruktive Misstrauensvoten gab es in der Geschichte der Bundesrepublik: Das erste scheiterte am 27. April 1972 gegen Willy Brandt, der Herausforderer Rainer Barzel (CDU) schaffte den Kanzlersturz nicht; das zweite glückte am 1. Oktober 1982 gegen Helmut Schmidt. So errang Helmut Kohl die Kanzlerschaft.
10. War die Bundesrepublik ein souveräner Staat? Die Souveränität eines Staates setzt Selbstregierung, Unabhängigkeit von anderen Staaten und Völkerrechtsunmittelbarkeit voraus – diese neuzeitliche Definition stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, der Zeit, in der das Völkerrecht aufblühte. Von 1949 bis 1955 war die Bundesrepublik kein souveräner Staat, sondern besaß den Status eines Protektorats der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Der amerikanische
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