1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
Im Flur stellte Paula Norton die schweren Einkaufstüten ab, bevor sie einen besorgten Blick zur Treppe warf, deren Stufen hell angestrichen waren.
Es war eine bequeme Treppe, die dennoch zur Qual werden konnte, wenn man sie bis zu ihrem Ende hochgehen musste wie die fünfzigjährige Frau mit den beiden prall gefüllten Einkaufstaschen.
Ihre Wohnung lag im vierten Stock. Ein Kleinod in einem ruhigen Haus mit einem wunderschönen Blick über bewaldete Höhen.
Paula Norton genoss den Ausblick sonst auch jedes Mal. Nur jetzt dachte sie nicht daran, sondern nur an das Schleppen der beiden Taschen, die in den vierten Stock geschafft werden mussten.
Es gab keinen, der ihr dabei half. Wäre Michael, der Sohn, noch am Leben gewesen, hätte er ihr die Last bestimmt abgenommen. Aber das war leider nicht der Fall, und so musste Paula die schweren Taschen allein in den vierten Stock tragen.
Sie ließ sich dabei Zeit. Auf jedem Absatz ruhte sie sich aus und schaute durch das Flurfenster in die herrliche frühsommerliche Landschaft.
Irgendwann hatte sie ihre Wohnungstür erreicht, atmete dabei schwer, stellte ihre Taschen ab und holte den Wohnungsschlüssel hervor.
Sie schloss auf und betrat ihre Wohnung, die sehr hell war, was nicht nur an den weißen Wänden lag, sondern auch daran, dass viel Licht durch die Fenster in den schrägen Wänden fiel. Leider wurde es dadurch im Sommer trotz der Isolierung recht warm. Der einzige Nachteil der Dachwohnung.
Paula Norton hatte die Taschen auf den Küchentisch gestellt und begann damit, sie leerzuräumen. Sie hatte einen Großeinkauf hinter sich. Allerdings bezogen auf eine Person.
Ihre Wohnung hatte noch eine Dachgaube. Und die befand sich in der Küche, sodass es dort ein senkrechtes Fenster gab.
Sie packte aus. Der Kühlschrank stand in der Nähe und nahm einen Teil der Lebensmittel auf. Auch der Küchenschrank war nicht weit entfernt.
Paula hatte die Türen geöffnet und packte die Lebensmittel ein.
Die Bewegungen waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Sie musste gar nicht groß hinschauen. Alles lief ab wie immer, und so konnte sie sich ihren Gedanken hingeben, die sich fast immer mit der eigenen Person beschäftigten.
Seit dem Tod ihres Sohnes hatte sie keine Verwandten mehr, die sie besuchten. Von ihrem Mann hatte sich Paula vor sechs Jahren scheiden lassen. Er war mit einer anderen abgezogen, und Paula hatte ihn gehen lassen.
Sie kam gut allein zurecht, wobei sie die Einsamkeit allerdings störte.
Aber auch daran hatte sie sich gewöhnt und ihr Leben neu eingerichtet.
Hinzu kam, dass sie einem Beruf nachging. Sie arbeitete in der Verwaltung eines Krankenhauses, und diesen Job konnte sie sogar als sicher ansehen, denn auch in diesen schweren Zeiten war noch niemand entlassen worden.
Momentan hatte sie Urlaub. Eine Woche nur, aber die hatte sie sich auch verdient. Wegfahren wollte sie nicht. Die Berge des Rheingau lagen in der Nähe. Da konnte sie wandern, wenn ihr danach war.
Der Urlaub hatte auch seine Nachteile. Da hatte sie noch mehr Zeit, über sich nachzudenken und über ihre Einsamkeit. Zwar hatte Michael nicht bei ihr gewohnt, aber er hatte seine Mutter so oft wie möglich besucht, auch wenn ihm das schwergefallen war, weil er beruflich ziemlich eingespannt gewesen war.
Er hatte ihr nie genau erzählt, was er tat. Er hatte für die Polizei gearbeitet, und da war er bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Man hatte ihn erschossen.
Auch jetzt konnte Paula es noch immer nicht richtig begreifen. Sie erinnerte sich noch gut an den Mann, der an einem Abend zu ihr gekommen war und ihr die Nachricht überbracht hatte. Sie hätte den Menschen eigentlich hassen müssen, was sie jedoch nicht tat, denn auch der Mann, der sich Harry Stahl genannt hatte, war sehr betroffen gewesen.
Das hatte er nicht gespielt.
Auch von ihm hatte sie nicht genau gewusst, wer er war. Das heißt, er hatte davon gesprochen, ein Kollege zu sein, doch so recht nahm sie ihm das nicht ab. Jedenfalls war er sehr einfühlsam gewesen und hatte ihr erklärt, dass sie, wenn sie mal Hilfe benötigte, sich immer an ihn wenden könne.
Sie hatte es mehr als ein Lippenbekenntnis angesehen. Bisher war sie allein zurechtgekommen, und sie hoffte, dass dies auch so bleiben würde.
Michaels Foto hing in jedem Zimmer. Sie wollte ihren Sohn stets bei sich haben. Es war auch immer das gleiche Bild. Es zeigte einen jungen Mann mit blonden Haaren und einem optimistischen Lächeln auf den Lippen. Er hatte
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