Die Abaddon-Mission (German Edition)
dress auszog und in Streifen riß. Er umwickelte se i ne Hände mit den Stoffstreifen und machte sich da r an, das Hindernis zu überklettern.
Anfangs erleichterte die stabile Konstruktion des Zaunes sein Vorhaben, bis er den Stacheldraht e r reicht hatte und gezwungen war, sich mit den Füßen über die oberen Drähte zu tasten. Obwohl er nur einen Teil seines Körpergewichts kurzzeitig auf die Hände verlagern mußte, bohrten sich die zentimete r langen Edelstahlspitzen tief in seine nur unzure i chend geschützten Handflächen.
Der Mann ignorierte die klebrige Wärme, die sich unter seinen Händen ausbreitete, und wuchtete se i nen Körper mit einer letzten Anstrengung über das Hindernis. Einen Augenblick lang fürchtete er, das Bewußtsein zu verlieren, bis seine Füße endlich Halt fanden, und der brennende Schmerz ein wenig nac h ließ.
Vorsichtig befreite der Mann seine blutenden Hände aus dem Drahtverhau und hatte Sekunden später wieder sicheren Boden unter den Füßen.
Er hatte es geschafft.
Der Mann war verletzt und zum Umfallen müde. Er besaß nichts außer einem Paar Laufschuhe und den zerrissenen Resten seiner Kleidung. Er wußte nicht, wo er die nächste Mahlzeit bekommen würde, ganz zu schweigen von einem Nachtquartier. De n noch fühlte er sich großartig. Zum ersten Mal seit seiner Kinderzeit hatte er etwas getan, das völlig irrational war, und vielleicht war gerade das die U r sache se i ner Euphorie.
Doch noch war keine Zeit zum Ausruhen. Wenn er den schützenden Wald noch vor dem Abend e r reichen wollte, mußte er sich auf den Weg machen.
Der Mann atmete tief durch und tat das, was er sein Leben lang getan hatte. Er begann zu laufen.
Er machte sich keine Gedanken darüber, ob der dunkle Waldstreifen – der auf schwer zu erklärende Weise zum Ziel seiner Sehnsucht geworden war – fünf, zehn oder zwanzig Kilometer entfernt war. Der Mann war ein geübter Läufer, und seine Beine fa n den ihren Rhythmus wie von selbst.
Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen.
Allmählich begannen die Wunden an seinen Hä n den zu verschorfen, doch der Mann empfand nicht mehr als ein dumpfes Ziehen, das sein Hochgefühl kaum beeinträchtigen konnte. Er genoß den intens i ven Duft nach Heu und trockenen Kräutern und lauschte dem geschäftigen Summen ganzer Hee r scharen u n sichtbarer Insekten.
Es schien, als hätten sich seine Sinne mit der Flucht über den Fangzaun geöffnet.
In dieser neuen, unbekannten Welt roch die wa r me Augustluft nicht nur anders, sie schmeckte auch anders, fühlte sich anders an. Sie schmeichelte se i nen Sinnen ebenso wie die weiche Grasnarbe unter seinen Füßen, die seine Schritte kraftvoll und f e dernd erscheinen ließ.
Der Mann lief wie in Trance und wunderte sich nur ein wenig darüber, daß der dunkle Streifen am Hor i zont nicht näherrücken wollte.
Die Sonne stieg höher, erreichte ihren Zenit und versank am Abend träge in einem kupferfarbenen Flammenmeer.
Der Mann lief.
Vier Schritte, einatmen. Drei Schritte, ausatmen.
Als sein Herz aufhörte zu schlagen, verlor der Mann fast augenblicklich die Kontrolle über seinen Kö r per. Er taumelte noch ein paar Schritte weiter, stolperte und fiel schließlich in eine Kuhle aus tro c k e nem, weichem Gras.
Zu weit ... müde ... muß schlafen, dachte der Mann in einem letzten Aufflackern seines Bewußtseins, aber morgen ...
Dann starb er und hatte schließlich doch noch den stillen, dunklen Streifen am Horizont erreicht, nach dem er sich ein Leben lang gesehnt hatte.
Die Suchmannschaften des Komitees fanden nie eine Spur von ihm.
Verzeichnis der Erstveröffentlichungen
Die Abaddon-Mission in »Deus Ex Machina«, Wurdack 2004, ISSN 1618-9647
Welcome to the Machine in »Das Tor der Trä u me« , EDFC Passau 2001, ISBN 3-932621-44-1
Die weißen Schmetterlinge in NOVA 3, 2003, ISBN 3-8334-0184-2
Der Kommandeur in »Das Tor der Träume« , EDFC Passau 2001, ISBN 3-932621-44-1
Schwarz in Angerhuber/Haubold: »Der Tag des silbe r nen Tieres«, EDFC Passau 1999, ISBN 3-932621-20-4
Old Man’s Sunday Blues als » Die alten Männer « in »Das Tor der Träume« , EDFC Passau 2001, ISBN 3-932621-44-1
Der Garten der Persephone in »Reptilienli e be« (Hrsg. Wolfgang Jeschke), Heyne 2001, ISBN 3-453-17113-6
Die Insel in »Das Geschenk der Nacht«, EDFC Pa s sau 2003, ISBN 3-932621-65-4
Der traurige Dichter in »Das G e schenk der Nacht«, EDFC Pa s sau 2003, ISBN 3-932621-65-4
Stille Nacht
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