Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
nur er. Ich erzählte ihm unsere Erklärung. Nämlich jene, die Hung, Frau Prof. Jirtler und ich uns zurechtgelegt hatten. Hung, der über Konstruktion und Architektur von Unwahrheit gut Bescheid wusste, hatte geraten, die Erklärung eingängig zu halten. Ich hatte dagegen gemeint, je komplizierter eine Darstellung, desto glaubwürdiger sei sie. Nicht in diesem Fall, war seine Einschätzung, man dürfe die Menschen erst gar nicht auf die Idee bringen zu fragen, Lüge durch Ablenkung sei in unserem Fall nicht ratsam. Also waren wir aufs Land hinter Leningrad eingeladen worden und dort weiter eingeladen worden und ein drittes Mal eingeladen worden, nicht anders ist das in Russland auf dem Land, und so sind zwei Monate zusammengekommen, und kein Telefon war in der Nähe. Nicht eine Sekunde glaubte ich, dass Hung und Frau Prof. Jirtler jemals in ihrem Leben eine andere Version erzählen würden. Kurt Hager hatte mich angelogen. Er hatte Oberst Nguyen Quoc Hung und Frau Prof. Jirtler verhört und nichts herausbekommen. Ich hatte ihm nicht eine Sekunde geglaubt.
»Und dein Finger?«, fragte Hagen Bertuleit.
»Ach«, sagte ich, »die Geschichte habe ich nun schon so oft erzählt.«
Dortchen war in meiner Abwesenheit traurig geworden. Ich glaube, sie war die einzige, die sich wirklich große Sorgen um mich gemacht hatte. Manchmal mitten am Tag kam sie gelaufen, schlang ihre molligen Ärmchen um mich und flüsterte in mein Ohr hinein: »Babbale, Babbale!« und weinte bitterlich, und ich weiß nicht, was mich mehr erschütterte, ihr Weinen oder dass sie meinen Kosenamen flüsterte. Es gab niemanden, der mich hätte trösten können.
»Hast du manchmal an mich gedacht, Janna?«
»Bist du gekränkt, wenn ich ehrlich bin?«
»Du hast nie an mich gedacht?«
»Ein- oder zweimal.«
»Und was hast du gedacht?«
»Wer war der, der mir damals Ostern 1978 hat helfen wollen, in dem komischen Heim, das so komisch gerochen hat.«
»Das hast du gedacht?«
»Ja. Und warum hat er mir helfen wollen.«
»Du hast dir nicht helfen lassen, Janna.«
»Das verstehst du nicht.«
»Inzwischen verstehe ich es.«
»Denkst du?«
»Ich glaube schon. Denkst du wirklich, ich verstehe es?«
»Inzwischen verstehst du es vielleicht.«
»Was gibt es dabei zu verstehen, Janna?«
»Gar nichts. Du wolltest mir helfen, und du willst mir helfen, und ich konnte mir nicht helfen lassen, und ich kann mir nicht helfen lassen.«
»Wir versuchen es noch einmal, Janna.«
»Siehst du, du verstehst es nicht.«
»Nein, ich verstehe es nicht.«
»Und du? Hast du oft an mich gedacht?«
»Manchmal habe ich an dich gedacht, Janna. Mit dir, habe ich gedacht, mit dir hätte ich sprechen können. Über das, was mir zugestoßen ist.«
»Du glaubst, ich hätte dich trösten können?«
»Ja, das habe ich geglaubt, Janna.«
»Hast du niemanden gehabt?«
»Doch. Viele hätten mich gern getröstet.«
»Viele?«
»Niemand hat viele, die ihn trösten können. Aber einige.«
»Wie viele?«
»Zwei oder drei.«
»Ich hätte dich getröstet. Das hätte ich. Das hätte ich gern. Das hätte ich sehr gern. Du tröstest mich ja auch. Aber jetzt habe ich genug davon. Wir versuchen es nicht noch einmal. Versprich mir, dass wir es nicht noch einmal versuchen.«
»Ich verspreche es dir, Janna.«
»Willst du mir jetzt sagen, wer du bist.«
»Ja, das will ich, Janna.«
ZWÖLFTES KAPITEL
Am 8. Januar 1987 , einem Donnerstag, packte ich meine Sachen, mein Buch und mein Radio, und nahm den Weg unter die Beine, verließ das Ländchen, sparte Gehens nicht und kehrte nirgends ein, sondern wanderte, bis ich … – Der Rest ist erzählt.
DANK
Marco Agostinelli, Jörg Albert, Manuela Auer, Charly Bonat, Péter Esterházy, Andreas Fend, Tamás Ferkay, Vinicio Fioranelli, Oliver Friedrich, Günter Hagen, Walfried Hauser, Judith Hecht, Lorenz Helfer, Kate Högenauer, Klemens Högenauer, Udo Jesionek, Annika Kräutler, Michael Krüger, Undine Loeprecht, Peter Monauni, Sabine Muhar, George Nussbaumer, Marcel Ruf, Gilbert Storck.
Besonderen Dank Monika Helfer.
Über den Autor
Michael Köhlmeier
Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Hard am Bodensee, lebt als freier Schriftsteller in Hohenems (Vorarlberg) und Wien. Bei Deuticke erschienen bisher (u.a.): Dein Zimmer für mich allein (1997), Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war (2002), Roman von Montag bis Freitag (2004), Nachts um eins am Telefon (2005) und Idylle mit ertrinkendem Hund (2008).
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