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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verzehrt. Am meisten setzten mir wieder die Kotzgeräusche aus den anderen Käfigen zu, weil ich fürchtete, man werde es früher oder später auch mit mir so weit treiben. Was würde man mit mir so weit treiben? Was mussten die sehen, was ich nicht sah? Was gab man ihnen zu essen oder zu trinken?
    Ich bekam Wundfieber. Meine rechte Hand schwoll zu einem blauroten Klumpen an, mein linker Unterarm ebenso. Der Stummel, wo mein kleiner Finger gewesen war, hatte zu riechen begonnen, der Hemdfetzen war klebrig vom Eiter, ein fauler Geruch, aber ich roch immer wieder daran. Als ich aufwachte, war der Bursche neben mir weg. In seinem Stall waren Haare, Knochen, Blut, Speichel, ein Fetzen Gewand, ein Schuh, eine Fotografie, ein Taschenspiegel, eine abgebrochene Messerklinge, eine Plastikblume. Das Angenehme am Fieber war, dass ich träumte. Ich meinte, dass ich träumte, in Wahrheit war ich wach und beobachtete. Wer kann unterscheiden. Und das war das Angenehme daran. Ich hätte auch meinen Tod geträumt oder meinen Tod beobachtet. Links von mir fing es an, von rechts kam Antwort, und bald war hüben und drüben Hyänengeheul aus den Mäulern zu hören, die Meute hielt einen zähen Ton, wie Gähnen war der, man hätte verzweifeln wollen bei dem Gedanken, wer denn die Verdammten seien, sie oder wir. Ich bin ein Tier, in Menschenhaut gefangen, bald werde ich erlöst.
     
    Am sechsten Tag, gezählt nach meinem Rhythmus – wobei ich zugeben muss, dass es nicht einmal mehr ein Rhythmus war, sondern inzwischen willkürliche Zerteilung der Zeit, einmal sagte ich zu mir Abend, einmal Morgen, einmal Dienstag –, wurde ich durch Schüsse geweckt. Ich dachte erst, man habe von Messern auf Maschinenpistolen umgestellt, weil das Töten dadurch einfacher und sauberer vonstattenginge und mit weniger Mühe und weniger Blut verbunden wäre. Ich sah eine Erleichterung darin, weil nun unser ohnehin nur noch kleiner Weg schneller an sein Ende kommen würde.
    So war es aber nicht.
    Unsere Höhle wurde überfallen.
    Die Tür zu meinem Käfig wurde aufgebrochen. Hung stand vor mir und nahm mich in seine Arme. Er weinte und streichelte meine Wangen, küsste mich auf die Stirn und auf den Mund. Währenddessen schossen seine Brüder.
    Ich sagte: »Ich will auch.«
    Hung nickte und drückte mir seine Maschinenpistole in die Hand. Das tat sehr weh. Mit meinem gebrochenen Unterarm konnte ich die Waffe nicht halten. Ich klemmte sie zwischen Ellbogen und Rippen. Die rechte Hand, an der das Stück Finger fehlte, pumpte und zuckte, als ob im Rhythmus des Herzschlags kochendes Wasser darübergegossen würde, ich fürchtete, die Hand könnte mir abfallen. Ich rief nach Frau Prof. Jirtler, bekam aber keine Antwort. Ich rief noch einmal. Meine Stimme reichte nicht aus. Ich bat Hung, er solle sie suchen, sie gehöre zu mir. Er gab seinen Brüdern Befehl. Ich schob den Zeigefinger vor den Abzug und schoss.
    Zu Hung sagte ich – ich denke, das sagte ich, oder ich dachte, ich sagte es: »Ich brauche mir nicht einzubilden, dass sie tot sind. Es geht auch so. Sehen Sie doch, Hung! Es sind Hyänen. Sehen Sie denn nicht die kleinen runden Ohren? Die scheckigen Hängebäuche? Es sind Tiere. Auf Tiere kann man getrost schießen, ohne denken zu müssen, sie seien tot. Es sind Hyänen, sehen Sie doch!«
    »Es sind tatsächlich Tiere«, bestätigte er mir und stellte sich hinter mich und half mir beim Töten. Er hatte genügend Munition bei sich und lud für mich nach, wenn es nötig war. Das Praktische an einer Maschinenpistole: Man muss nicht genau zielen. Dass die Waffe in meiner Hand heiß wurde, empfand ich als angenehm. Ich schoss, und sie fielen.
    Einige ließen die Brüder übrig. Einen verhörten sie. Der schrie, und sie stimmten in sein Geschrei ein. Er saß am Boden, die Beine waren ihm der Länge nach zerschossen worden, mit Garben aus den Maschinenpistolen, auf und nieder, auf und nieder. Lang saß er da, lehnte mit dem oberen Rücken an der Wand, die Hosenrohre flach, als wären sie leer, eingetaucht in Blut. Ich konnte kein Wort verstehen. Hyänen haben bekanntlich keine Worte. Aber Hungs Brüder berichteten, nachdem sie den Gefangenen mit einem Kopfschuss hingerichtet hatten, sie hätten einiges herausgefunden. Ich hatte kein Interesse daran.
    Auch Frau Prof. Jirtler war ein kleiner Finger abgehackt worden. Sie weigerte sich, etwas zu sagen. Sie blickte mich kurz an, schüttelte kaum merklich den Kopf, sonst nichts. Ihr Gesicht war schwarz von dem Ruß am

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