Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
1
Die Männer, mit denen ich manchmal Bier trinke und die keine Ahnung von mir haben, sagen, ich solle unbedingt mit etwas Lustigem beginnen. Ein Mann kommt in eine Bank, hält der Frau am Schalter die Pistole an die Stirn und sagt: Keine Angst, das ist kein Überfall, das ist nur ein Amoklauf. Mein Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser, der mich mag und eine Ahnung von mir hat, rät mir zu einer literarischen Anspielung als Einstieg. Er meint – spricht es aber nicht aus –, das würde mir das Debüt bei den Kritikern erleichtern.
Meine Geschichte beginnt in einer Zeit, von der viele glaubten, sie sei die letzte. Die besten Ärzte des größten Reiches waren für die Herren der Partei und der Armee reserviert; die Besten der Besten für Stalin, Molotow, Malenkow und Berija. Aber sie verkauften, was sie wussten, ans Ausland und wurden verhaftet und vor ein Gericht gestellt. Die Anklage lautete auf Hochverrat und Mord, denn sie hatten durch absichtliche Fehlbehandlung den Tod einiger Herren herbeigeführt – sogar solcher, die gar nicht gestorben waren. Man hat sie, wie Sie mir glauben dürfen, allesamt abgeholt, verhört, gefoltert, hingerichtet, erschossen, liquidiert und aufgehängt.
Meine Geschichte beginnt in Ungarn; auch dort existierten solche Ärzte. Ihr Rädelsführer war Dr. Ernö Fülöp, der Leiter der internen Abteilung an der Semmelweisklinik in Budapest. Er war mitten in einer Operation, als drei Männer im Krankenhaus auftauchten. Er musste einen Assistenzarzt bitten, seine Arbeit zu Ende zu führen. Man brachte ihn in die Zentrale des Staatssicherheitsdienstes, wo ihn die ÁVH-Offiziere Major György Hajós und Oberst Miklós Bakonyi verhörten. Dr. Fülöp wurde vorgeworfen, mit den Moskauer Ärzten unter einer Decke zu stecken. Er habe versucht, den ersten Sekretär der Partei der ungarischen Werktätigen, den Führer Mátyás Rákosi, während einer Gallenblasenoperation zu ermorden; außerdem unterhalte er Kontakte zum jugoslawischen Geheimdienst, der vermutlich hinter der Verschwörung stecke, wenn es nicht sogar Josip Broz Tito persönlich sei. Dr. Fülöp beteuerte, er sei dem Parteivorsitzenden Rákosi in seinem Leben noch nicht begegnet, ganz bestimmt nicht im OP, und seit Ende des Krieges sei er nicht mehr in Belgrad oder sonst irgendwo in Jugoslawien gewesen, und Tito kenne er nur aus den Zeitungen wie jeder andere Ungar auch. Nachdem man ihn eine Nacht lang verhört hatte, gestand er, es bestehe doch eine Verbindung zum Parteivorsitzenden: Seine Frau nämlich, Dr. Helena Fülöp-Ortmann – eine sehr bekannte Ägyptologin, deren Buch über den Pharao Echnaton in Ungarn ein großer Erfolg war und in mehrere Sprachen übersetzt wurde –, habe zusammen mit einer Cousine von Rákosi die Volksschule besucht; aber das sei dreißig Jahre her. Dieselben drei Männer – Janko Kollár, Lajos Szánthó und Zsolt Dankó –, die schon Dr. Fülöp abgeholt hatten, wurden abermals losgeschickt. Sie schlugen an die Tür der Wohnung Nummer 7 im zweiten Stock des Hauses Nummer 23 an der Báthory utca und zerrten Frau Fülöp-Ortmann durch das Treppenhaus nach unten. Sie schrie, ein Kind sei in der Wohnung, man solle ihr wenigstens erlauben, die Mutter des Kindes zu verständigen. Die Männer meinten, das sei eine Finte, sie wolle sich nur eine Gelegenheit verschaffen, um aus dem Fenster zu springen. Sie wurde wie ihr Mann in das Hauptgebäude der ÁVH in der Stalinstraße 60 gebracht und verhört.
Das Kind in der Wohnung war ich. Damals hieß ich András Fülöp. Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt. Mit diesem Tag beginnt meine Erinnerung.
2
Kurz bevor die Männer kamen, hatte mich meine Großmutter auf den Diwan im Salon gelegt und für den Mittagsschlaf zugedeckt. Als ich aufwachte, war ich allein.
Die Wohnung meiner Großeltern war sehr geräumig; Ärzte waren von den Enteignungen ausgenommen, jedenfalls bestimmte Ärzte. Ich rief nach Moma, tappte durch die Zimmer und hatte Durst. Ich schlich vorsichtig zur Küche, weil ich meinte, von dort etwas gehört zu haben. Zugleich aber wusste ich, dass ich immer schon gemeint hatte, von dort etwas zu hören, und das beruhigte mich ein wenig und ließ mich mutig sein. Meine Großmutter war eine junge Frau – sie war damals erst neununddreißig! –, in unserer Familie war es Tradition, dass die Frauen sehr jung Kinder bekamen; sie war ihr Leben lang gewohnt gewesen, bedient zu werden; als Tochter eines Diplomaten und
Weitere Kostenlose Bücher