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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Feh
    Die öffentliche Erinnerung an die Kindsmörderin vom Muckensturm verblasst im Lauf der Jahre. Ich merke, dass ich mich wohler fühle, wenn mich niemand beachtet. Ich werde unsichtbar. Meine ersten Jahre auf dem Kepler-Gymnasium in Cannstatt sind angenehm. Ich bin unauffällig gut in Mathe und Deutsch. Es fällt mir leicht zu lernen. Ich kann dem Schatten meiner Mutter ein Stück davonlaufen.
    Er holt mich nur ein, wenn meine Mitschüler mich fragen, warum ich anders heiße als mein Bruder Lukas und meine Eltern. Dann antworte ich, weil ich ein Pflegekind bin. Das hat so lange funktioniert, bis jemand sagt: Aber dann könnten sie dich doch adoptieren. Ja, warum haben sie mich nicht adoptiert? Muss man vorsichtig sein mit einer wie mir?
Die Sexualaufklärung, die wir Mädchen getrennt von den Jungs erhalten, bringt mir die Erkenntnis, dass die Taten meiner Mutter eine Folge der menschlichen Sexualität sind, die allgemein da ist und mit der auch ich selbst eines Tages zu tun haben werde. Der biologischen Brutalität der Sexualität entgeht niemand. Die Lehrerin spricht von Zyklus, Eisprung und Verhütung. Wieso hat meine Mutter nicht gewusst, dass man nicht schwanger werden muss, wenn man es nicht will? Hat es früher keine Pille gegeben?, frage ich meine Mutter.
    Sie lacht selten, aber jetzt lacht sie. »Die Pille gibt es schon seit der Jugend meiner Mutter. Allerdings verträgt sie nicht jede. Und wenn man sie öfter vergisst, dann kann auch etwas passieren.«
    »Aber«, sage ich, »dann kann man es doch wegmachen lassen.«
    »Das ist keine leichte Entscheidung, Kind«, antwortet sie.
    Aber immer noch besser, denke ich, als neun Monate lang schwanger sein und das Neugeborene dann töten.
    Meine Pflegemutter merkt, warum ich frage. »Was deine Mutter getan hat, werden wir nie verstehen«, sagt sie.
    Das Phänomen der nicht wahrgenommenen Schwangerschaft kommt recht häufig vor, lese ich. Eine von knapp fünfhundert Schwangerschaften wird bis weit über den fünften Monat hinaus nicht bemerkt. Etliche Geburtshelfer haben schon Frauen entbunden, die nicht wussten, dass sie schwanger waren. Frauen mit mangelnder Körperwahrnehmung. Sie halten die Tritte des Embryos für Blähungen. Sie denken sich nichts, wenn die Tage ausbleiben, und manchmal gibt es Blutungen auch während der Schwangerschaft. Die Gewichtszunahme wird anders erklärt. Neben denen, die es nicht merken, gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft ignorieren, weiter trinken und rauchen und mit großer Unbefangenheit leugnen, falls jemand sie fragt. Sie fallen aus allen Wolken, wenn die Geburt einsetzt. Können sich das Geschehen nicht erklären, sind verwirrt und geschockt. Verleugnete Schwangerschaften, lese ich, können zum Neonatizid führen. Vor allem wenn die Persönlichkeit der Mutter Unreife und fehlende Krisenbewältigungsmechanismen aufweist.
    Hat meine Mutter gelebt wie eine Frau im Mittelalter, wo man die Schande der Wollust unter weiten Gewändern verbarg und im Wald niederkam? Ich schäme mich meiner dummen, gewissenlosen und feigen Mutter. Warum hat sie mich am Leben gelassen? Warum muss ich mit Abscheu und Scham leben?
Einmal, mit fünfzehn oder sechzehn, bin ich oben in der Zuckerbergstraße gewesen, wo sie gewohnt hat. Man sieht die Häuser von unten, vom Neckar aus, über den Weinberg ragen, wo das Cannstatter Zuckerle angebaut wird. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ständig warte ich auf Erlösung. Zu Hause habe ich behauptet, ich ginge mit Freundinnen in die Stadt. Aber ich bin mit der Straßenbahn in die Gegenrichtung gefahren. Ein Tunnel spuckt einen plötzlich oben aus. Ich muss raus, die Steinhaldenstraße hinunter. Hastig und mit Herzklopfen husche ich dann die Zuckerbergstraße entlang. Eine alte Frau kommt mir entgegen, vor der ich mein Gesicht verstecke. Denn womöglich erinnert sie sich an meine Mutter und ruft: »Dich kenn i doch. Du bisch die Tochter von dere mörderische Schlampe. Schämsch di net, hier zum auftauche?«
    Ich bleibe nicht stehen. Ohnehin weiß ich keine Hausnummer. Es sind vier langgestreckte Wohnblocks, die senkrecht zur Straße stehen. Waren auf dem Zeitungsfoto nicht Birken? Es gibt nur eine Garagenzeile, vor der Birken stehen. Dort also bin ich vermutlich geboren worden. Aus unbekannten Gründen habe ich überlebt.
    Auf der anderen Straßenseite liegt die Kleingartenanlage mit einem Zugangstor. Hier hat meine Mutter nachts ihre Bündel hineingetragen, diesen Weg, bis hinunter zum

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