Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Zuckerbergstraße ein Kind weinte und niemand öffnete. Ein Foto zeigt den Hausflur einer ärmlichen Wohnung, an die ich mich nicht erinnere. Kein Teppich auf dem Linoleum, eine alte Kommode, eine halbnackte Puppe auf dem Boden. Das Kind hat sich von Keksen und Wasser aus dem Wasserhahn ernährt. Es wurde zunächst in ein Kinderheim verbracht.
Die Suche nach der Frau, die sechs Jahre lang in dieser Wohnung gelebt und in den letzten drei Monaten keine Miete mehr bezahlt hat, verläuft ergebnislos. Von ihr gibt es kein Foto. Sie ist in einem Kinderheim in Bremen aufgewachsen, wie die Polizei herausgefunden hat. Über ihre Eltern, meine Großeltern, ist nichts bekannt. Über meinen Vater auch nicht. Die Nachbarn schildern dem Zeitungsreporter meine Mutter als freundlich. Es ist von wechselnden Männerbekanntschaften die Rede. Sie habe davon gesprochen, nach Spanien zu gehen. Seitdem ist sie verschwunden. Deshalb habe ich auch keinen Geburtstag. Niemand kennt den Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin. Vermutlich im Oktober. Das Datum ist willkürlich.
Die Verbindung von mir zu den Neugeborenenleichen wird zunächst nicht hergestellt. Erst die Angaben einer Nachbarin, die Vermisste sei nach ihrer Einschätzung einmal schwanger gewesen und habe es, von ihr darauf angesprochen, erst abgestritten, dann aber erklärt, das Baby sei tot geboren worden, führen dazu, dass der zuständige Staatsanwalt einen Genabgleich anordnet. Es stellt sich heraus, dass ich die Schwester der toten Babys vom Muckensturm bin, schwer zu sagen, ob das fünfte oder vierte. Zeitung und Öffentlichkeit entrüsten sich erneut. Meine Mutter wird seitdem mit internationalem Haftbefehl gesucht. »Nicht mal stehen hat sie zu ihren Taten können«, habe ich hinter mir wispern gehört. Das ist unsere fast noch größere Schande: die Feigheit meiner Mutter.
Allmählich kann ich die heftigen Gefühle einordnen, die über mich herfallen. Vor allem, wenn Bekannte meiner Pflegeeltern sich erst mir zu- und dann wieder von mir abwenden und ihnen Sätze von den Lippen rutschen wie: »Das arme Kind!« oder »Wie kann eine Mutter so etwas tun?« Ich löse Mitleid aus, für das ich keinen Grund finde, und zugleich Abscheu und Verachtung, die sich über meinen Kopf hinweg gegen eine mir unbekannte Person richten, die mich anscheinend immer begleitet. Sie klebt an mir. Ich kann sie weder abschütteln, noch den Gefühlen entkommen, die ich auslöse.
Haftbuch, Freitag, 11. Januar
Meine Pflegemutter war zum ersten Mal hier. Es ist kompliziert für sie. Sie fährt nicht Auto, und mein Pflegevater kann nicht aus dem Geschäft weg, um sie zu fahren. Auch dürfte er nicht mit ihr zusammen zu mir herein. Mich darf immer nur eine Person besuchen, und das nur alle zwei Wochen für eine halbe Stunde. Dafür muss sie extra Wochen vorher einen Antrag bei der für mich zuständigen Staatsanwältin stellen, jedes Mal. Und sie muss zuvor in der Verwaltung der Anstalt anrufen und sagen, dass sie an diesem Freitag kommt. Das hat sie nicht gewusst, erzählt mir meine Pflegemutter, deshalb ist sie vor vierzehn Tagen abgewiesen worden. Und auch heute hätte man sie beinahe wieder heimgeschickt, weil sie sich eine halbe Stunde vor dem Termin am Tor hätte melden müssen, aber erst eine Viertelstunde vorher da war. Man hat sie dann aber doch reingelassen. Nur geht das jetzt von der halben Stunde Besuchszeit ab. Und mitbringen darf sie auch nichts von daheim. Keinen Kuchen, kein Obst. Das muss sie an den Automaten ziehen. Und dafür braucht sie die passenden Münzen. Man ist sehr streng, sie muss alle Taschen zeigen und sich durchsuchen lassen. Wäsche und Kleidung für mich hat sie aber am Tor abgeben dürfen. Ich bekomme sie dann später. Sie hofft, sie habe meine Größe getroffen, in meinen Schränken ist ja nichts mehr.
Die Polizei hat alles beschlagnahmt, um es auf Blutspuren und Bonobohaare zu untersuchen, erkläre ich ihr.
Bitte nicht über das Verfahren sprechen, sagt die Beamtin, die uns akustisch überwacht.
Meine Pflegemutter schluckt und ergreift meine Hand. Kind, das ist ja alles ganz furchtbar.
Und berühren dürfen wir uns auch nicht. Sie könnte mir ja was zustecken. Worüber sollen wir reden? Wenn jemand zuhört, wird der Kopf leer. Zum Glück ist die Besuchszeit schnell rum. Schon während ich zurückgeführt werde, schmerzt der Verlust und wirft sich meine ganze Hoffnung vierzehn Tage voraus auf die nächste Besuchszeit.
Fortsetzung Verteidigung Camilla
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