Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Hauptfriedhof.
Ich kenne die genaue Stelle nicht, wo sie meine Geschwister vergraben hat. Ich würde sie nicht finden. Plötzlich habe ich auch keine Kraft mehr. Ich bin lahm wie meine Mutter. Ist es das, was jemanden zu solchen Taten bringt? Eine unüberwindliche innere Kraftlosigkeit? Die Unfähigkeit, die letzte Konsequenz in Augenschein zu nehmen?
Meiner Pflegemutter fällt auf, dass ich mich abends am Esstisch kaum gerade halten kann. Sie fragt nicht. Sie haben nie gefragt. Sie rühren nicht gern an das Monstrum, das mich begleitet. Sie werfen mir nur besorgte Blicke zu. Als ob sie darauf warten, dass meine Mutter in mir ausbricht wie eine Krankheit, wie die Pest, die ganze Familien ins Grab bringt. Ich fühle mich an dem Abend, als wäre ich die Mörderin selbst, die es an den Ort des Verbrechens zurückgezogen hat. Indem ich meine Tat vom Nachmittag verheimliche, verheimliche ich das Verbrechen meiner Mutter und mache mich mit ihr gemein.
In der Nacht überfällt mich Panik, wenn ich mir vorstelle, es hätte mich jemand erkennen können oder wissen wollen, wonach ich Ausschau halte, warum ich die Wohnungen mustere, ob ich sie ausspähe für einen Einbruch. Und dann hätte womöglich jemand die Polizei gerufen, und die hätte mich nach meinem Namen gefragt, den ich hätte nennen müssen.
Wenn ich doch nur meinen Namen ändern könnte. Dann müsste ich nicht mehr fürchten, dass jemand in seinem Gedächtnis kramt, wenn er den Namen Tanner hört. »War da nicht mal was mit einer Kindsmörderin? Anfang der Neunziger?« Ja, wenn ich einen anderen Namen hätte, könnte meine Mutter nicht mitkommen in meine Zukunft.
Solange ich minderjährig bin, kann ich allein und heimlich nichts ausrichten. Ich muss meinen Wunsch meinen Pflegeeltern anvertrauen. Mein Pflegevater eröffnet mir, dass sie miteinander besprochen haben, mir die Adoption anzubieten, sobald ich volljährig bin. Dann brauchen wir die Einwilligung meiner Mutter nicht mehr. Es gibt ja keinen Hinweis, dass sie nicht mehr am Leben ist.
Im Oktober 2005 vollzieht das Amtsgericht meine Adoption. Ich bin frei und ich schreibe mich nach dem Abitur an der Uni Tübingen für ein Studium der Soziologie mit dem Nebenfach Erziehungswissenschaft ein. Aufgabe der Soziologie ist die methodisch kontrollierte Beobachtung und Analyse zwischenmenschlichen Verhaltens und Handelns. Am Institut für Soziologie der Universität Tübingen wird schwerpunktmäßig in den Bereichen Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialstrukturanalyse, Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie Soziologie der Geschlechterverhältnisse gelehrt und geforscht.
Prof. Schmaleisen (Grundlagen der Soziologie) rät uns, ein Lerntagebuch zu führen. Das Schreiben trage zu einer Vertiefung des Lernstoffs bei, indem man sich regelmäßig damit beschäftigt und seine eigenen Rollen und Standpunkte reflektiert.
Also fange ich an zu schreiben.
Das Studium überfordert mich nicht. Doch ich gehe auf brüchigem Eis. Ich fürchte Entlarvung. Manchmal fantasiere ich mitten im Seminar oder Kolloquium, gleich werde einer aufstehen und auf mich deuten: »Das ist Camilla Feh. Sie hat ihren Namen geändert, weil ihre Mutter in den achtziger Jahren vierfachen Neonatizid begangen hat. Wie fühlt man sich denn als Tochter einer Kindsmörderin?«
Auch Professor Schmaleisen schaut mich manchmal so an, als werde er im nächsten Augenblick die zweite Person ansprechen, die hinter mir steht. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm alles zu gestehen. Dann müsste ich nicht mehr fortwährend fürchten, dass meine Geschichte herauskommt. Aber meine Neigung zur Schweigsamkeit ist größer als die Versuchung. Ich weiß auch gar nicht, wie man über sich selbst redet. Ich mag die Gewalt der Gefühle nicht, die ich auslöse: Abscheu, Verachtung, Entsetzen, Mitleid. Sobald meine Mutter aus ihrem Schatten tritt und sich neben mich stellt, bin ich als Person nicht mehr da. Oder ein Monstrum.
Aus meinem Lerntagebuch wird ein Tagebuch.
Die Tötung von Kindern durch elterliche Hand hat es in allen Epochen der Menschheitsgeschichte gegeben, lese ich in Mutter Natur von Sarah Blaffer Hrdy. Das ist unser tierisches Erbe. Schon bei den Schimpansen wird ein Drittel der Kinder gleich nach der Geburt getötet. In China und Indien bringt man heute noch Mädchen nach der Geburt um. In China, weil dort nur ein Kind erlaubt ist und die Eltern einen Sohn brauchen, der Geld verdient und sie im Alter
Weitere Kostenlose Bücher