Die Assistentin
PROLOG
C ox, Lucy: Einheit für Jugendkriminalität und Prostitution
Fallnummer: COX022378 15 lapd.juv.dtb
Abgeschlossen: 3. März 1993
Versiegelt per Gerichtsbeschluss: 10. April 1993
Er nahm den Ordner aus dem Aktenschrank und blickte einen Moment nachdenklich auf das Etikett, ehe er ihn öffnete. Vor fünfzehn Jahren hatte er Kopien der Originalakten gemacht und sie bei sich zu Hause versteckt. Er würde sich höchst verdächtig machen, falls man die Unterlagen je bei ihm entdecken sollte. Der Fall war abgeschlossen und die Akte auf Antrag der jugendlichen Straftäterin versiegelt worden. Im Gerichtsgebäude von L.A. ruhte die einzige offizielle Kopie.
Aber er arbeitete nicht mehr für das Gesetz, sondern auf eigene Rechnung.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete die Akte und sah sich seinen letzten Eintrag an.
23. Februar 1993
Heute, an ihrem achtzehnten Geburtstag, wurde sie entlassen. Gott helfe jenen, die willensschwach sind, vor allem, wenn es Männer sind.
Als er an die Reaktion seines damaligen Vorgesetzten dachte, musste er beinahe lächeln. Für diesen Fall war er heftig unter Beschuss geraten. Sogar so sehr, dass er seine Karriere bei der Polizei beendet hatte. Aber er konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, in der er sich mehr Sorgen um Lucy Cox als um die unvorsichtigen Männer gemacht hatte, die ihren Weg kreuzen könnten.
Doch das war vorbei. Er griff nach dem schwarzen Kugelschreiber, einen von jener Sorte, mit denen er den Akten Notizen hinzugefügt hatte, als er noch beim LAPD gewesen war. Er erwog kurz, dem Fall eine neue Nummer zuzuordnen, entschied dann jedoch, die alte zu behalten. Er war ein Anhänger der Theorie, dass Menschen sich niemals änderten. Wie Laborratten entwickelten sie nur neue Strategien, um zu bekommen, was sie brauchten. Vielleicht war er zynisch, aber er hatte dafür bessere Gründe als die meisten anderen Menschen.
Er drückte auf den Kugelschreiber und machte den ersten neuen Eintrag seit zwölf Jahren. Es ging um sie. Es ging darum, wer sie heute war und warum auch sie sich nicht verändert hatte. Er benutzte seine eigenen Worte und notierte seine Gedanken ungefiltert. Er würde diese Notizen ohnehin zerstören, wenn er getan hatte, was er tun musste. Niemand außer ihm würde diese Akte jemals lesen.
Mittwoch, 9. Oktober, 23:00 Uhr
Sie hat ihren Namen geändert, um ihre kriminelle Vergangenheit zu verbergen. Aber sie hat ihre Vergangenheit nicht hinter sich gelassen. Sie verkauft immer noch das, was jeder will. Sie hat nur einen Weg gefunden, um es auf legalem Weg zu tun.
Er hielt inne. Sein Puls raste. Er nahm es zu persönlich, und das war das Problem. Aber es
war
eine persönliche Angelegenheit. Er legte den Stift beiseite, unfähig, so schnell zu schreiben, wie Gedanken auf ihn einstürmten. Schon mit fünfzehn, als er sie ins Gefängnis gebracht hatte, hatte sie diese Macht besessen. Seit ihrem achtzehnten Geburtstag war sie frei, und es fiel ihm nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie ihre Schritte sorgfältig geplant hatte, einschließlich der Wahl des richtigen Berufes. Einige der angesehensten Männer des Landes zählten zu ihren Kunden.
Es könnte für alle Beteiligten eine wunderbare Sache sein – außer dass Lucys Kunden gerade wie die Fliegen umfielen. Durch Skandale, durch versteckte Anspielungen und jetzt auch noch durch Tod. Und niemand außer ihm schien die Verbindung zu erkennen. Ihre Kunden bewegten sich im Milieu von Macht und Privilegien, weitab von der realen Welt und ihren Regeln. Gab es in ihrer Welt jemanden, der es wagte, die Wahrheit zu sagen? Wenn man derart isoliert lebte, wer kannte einen dann besser als die Friseurin, der persönliche Fitnesstrainer … oder die private Concierge?
1. KAPITEL
S amstag, 5. Oktober
Vier Tage zuvor
Ned Talbert trat so heftig auf die Bremsen, dass sein Alfa Romeo Spider fauchte und die Reifen sich wie die Hufen eines Bullen in den Kies gruben. Das Heck des Sportwagens hob sich leicht, als würde er gleich einen Salto machen, und Neds Knie schlugen gegen das Armaturenbrett.
Kieselsteine spritzten gegen die Windschutzscheibe.
Ned wurde zurückgeschleudert und stöhnte erleichtert auf, als sich das Lenkrad nicht mehr in seine Rippen presste. Erstaunlicherweise war der Airbag nicht aufgegangen. Fast hätte er Rick Bayless’ Blockhütte in den San Gabriel Mountains verpasst.
Das Tor war nicht nur zu, sondern zusätzlich noch mit einem Vorhängeschloss gesichert. Selbst im
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