Die Ahnen von Avalon
bekannten, weit im Norden gelegenen Königreich Zaiadan stammte.
»Wir dürfen uns nicht von Angst beherrschen lassen«, sagte Micail, als der Diener gegangen war. »Nicht nur Rajasta, auch viele andere Propheten sagen eine Endzeit voraus. Wenn diese Zeit nun gekommen ist, schweben wir in großer Gefahr, aber an keiner Stelle lässt sich den Weissagungen entnehmen, dass wir dem Untergang rettungslos preisgegeben wären. In Rajastas Vision gründen du und ich sogar einen neuen Tempel in einem neuen Land! Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine Schicksalsmacht gibt, die uns beschützen wird. Wir müssen nur zu ihr finden.«
Er reichte Tiriki die Hand, und sie nickte und ergriff sie. Doch bevor sich die Prophezeiung erfüllen kann, müssen wir Abschied nehmen von dem herrlichen, glanzvollen Leben, in das wir hineingeboren wurden, dachte sie.
Aber noch schien die Sonne, und von ihrem Teller stiegen verlockende Düfte auf und lenkten sie aufs Angenehmste von der Zukunft mit all ihren Schrecken ab. Tiriki beschloss, diese Stunde mit Micail zu genießen, und suchte nach einem unverfänglicheren Thema.
»Wusstest du, dass Elara eine fähige Bogenschützin ist?«
Micail hob verwundert eine Augenbraue. »Ein ungewöhnlicher Zeitvertreib für eine angehende Heilerin… Sie geht doch bei Liala in die Lehre?«
»Gewiss doch, aber du weißt ja, ein Heiler braucht eine sichere Hand und starke Nerven. Elara ist inzwischen eine Art Anführerin der Priesterschüler geworden.«
»Ich hätte eher erwartet, die Alkonierin - deine Schülerin Damisa - werde diese Rolle übernehmen«, gab er zurück. »Ist sie nicht die Älteste? Ich glaube, sie ist sogar mit Tjalan verwandt. Und diese Familie führt nun einmal gern das Kommando.« Micail grinste, und Tiriki erinnerte sich, dass er früher etliche Sommer zusammen mit dem Prinzen von Alkonath verbracht hatte.
»Vielleicht hält sie sich auf ihre königliche Abstammung etwas zu viel zugute. Immerhin ist sie als Letzte hier eingetroffen, und mir scheint, es fällt ihr reichlich schwer, sich einzufügen.«
»Wenn sie keine größeren Schwierigkeiten zu bewältigen hat, kann sie von Glück reden!« Micail trank den restlichen Wein aus und stand auf.
Tiriki seufzte, aber es war tatsächlich an der Zeit zu gehen.
Als der Wirt erkannte, dass es sich bei dem Paar, das so lange den besten Tisch auf seiner Terrasse mit Beschlag belegt hatte, um den Prinzen und seine Gemahlin handelte, lehnte er jede Bezahlung ab, aber Micail bestand darauf, sein Siegel in ein Stück Lehm zu drücken.
»Wenn Ihr das im Palast vorzeigt, werden meine Diener die Zeche für mich bezahlen.«
»Du bist kleinlich«, spottete Tiriki, als man sie endlich gehen ließ. »Der Mann war so stolz darauf, den Prinzen bewirtet zu haben, und wollte sich für die Ehre erkenntlich zeigen. Warum hast du ihm den Gefallen nicht getan?«
»Nimm es als Zeichen meiner Zuversicht.« Micails Lächeln fiel etwas grimmig aus. »Das Stück Lehm verkörpert meinen Glauben daran, dass morgen hier noch jemand sein wird. Und wenn es ihm, wie du sagst, nur um die Ehre geht - nun, niemand zwingt ihn, das Plättchen einzulösen. Erinnerungen verblassen. Aber mein Siegel ist ein dauerhaftes Andenken.«
Sie gingen langsam zum Palast zurück und sprachen von alltäglichen Dingen, aber im Geiste hörte Tiriki noch immer die Schreie der Seherin durch die Höhle schallen.
Als Damisa das Haus der Fallenden Blätter betrat, ging für die anderen Schüler soeben der Unterricht zu Ende. Elara von Ahtarrath war die Erste, die sie kommen sah. Die dunkelhaarige, dralle junge Frau stammte von der Insel, und so hatte man ihr die Aufgabe übertragen, den Neulingen aus den anderen Inselstaaten die Eingewöhnung zu erleichtern.
Priester und Priesterinnen wurden in den Tempeln aller zehn Inseln ausgebildet. Doch in jeder Generation wählte man aus den begabtesten jungen Leuten zwölf aus, um sie in die Großen Mysterien einzuführen. Einige von ihnen würden später als ranghohe Priester auf ihre Heimatinseln zurückkehren, während sich andere besonderen Fachgebieten wie etwa der Heilkunde oder der Sterndeutung widmen würden. Aus den Zwölf kamen auch die Meister der Mysterien, die als Heilige Hüter im Tempel des Lichtes ganz Atlantis dienten.
Das Haus der Fallenden Blätter war ein niedriges, weitläufiges Gebäude mit Gängen, die nicht rechtwinklig angeordnet waren, und übergroßen Zimmerfluchten; es hieß, es sei vor mehr als hundert Jahren
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