Silver - Erbe der Nacht (German Edition)
W inter Starr blieb unvermittelt stehen, die Schatten des Waldes spielten mit ihren langen schwarzen Haaren. Vor ihr lag das kleine Cottage. Sie wusste nicht, ob sie ganz zufällig hierher geraten oder ob dies von Anfang an das Ziel ihres Laufs gewesen war.
»Komm her, mein Kind. Ich freue mich, dass du da bist«, sagte Bethan Davies und trat aus dem Dickicht der Bäume. Der volle, melodische Klang ihrer Stimme drang durch den Wind und umfing das Mädchen.
»Ich muss die Wahrheit wissen«, verkündete Winter und folgte ihr ins Haus.
Die alte Frau zeigte keinerlei Überraschung und war sich nicht einen Augenblick darüber im Unklaren, was für eine Geschichte Winter hören wollte. Seit dem Tag, an dem das Mädchen von London nach Cae Mefus gezogen war, um bei der Familie Chiplin zu wohnen, hatte sie darauf gewartet.
»Eine Verbindung zwischen Mensch und Vampir kann praktisch nie gut gehen«, begann sie, während Winter ihr gegenüber am Küchentisch Platz nahm. »Viele haben es in der Vergangenheit versucht, aber nur den Angehörigen der Familien stand es zu, als ob die Natur ein Band zwischen uns geschaffen hätte.« Sie hob die Augen und richtete einen Blick voller Bitterkeit auf Winter. »Ich glaube, dass es irgendeine Art Gerechtigkeit in all dem gibt. Doch wer beiden Geschlechtern angehörte, hatte nie ein glückliches Schicksal, mein Kind.«
Winter sagte nichts, doch ihre Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln.
Das weiß ich nur allzu gut, Bethan , dachte sie bei sich. Niemand wusste das besser als sie, die Tochter eines Vampirs und Elaine Mitchells von den Familien. Was ich herausfinden will, ist, wie unglücklich es sein wird …
»Die beiden Geschlechter haben an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten Söhne und Töchter hervorgebracht. Aus Liebe, wie bei deinen Eltern, aus Dummheit, aus Berechnung, aus Gier nach Macht und Unsterblichkeit. Meist wurden diese besonderen Geschöpfe schon als Kinder getötet, bevor sie in der Pubertät ihre Kräfte entfalten konnten.«
Bethan sprach mit einfachen Worten, ohne Umschweife, und nahm keine Rücksicht auf den Schmerz, den sie Winter zufügte. Vermutlich gab es überhaupt keine andere Möglichkeit, die Wahrheit zu enthüllen.
»Einige von ihnen schenkten den Vampiren Unsterblichkeit, indem sie zuließen, dass sie sich mit ihrem Blut nährten.«
Von Bethans Stimme heraufbeschworen, verdichtete sich die Vergangenheit um sie herum wie undurchdringlicher Nebel, voller Geheimnisse, die man sich zuraunte. Winters Herz schlug heftiger, als Rhys’ Gesicht in ihren Gedanken aufleuchtete.
›Einige von ihnen schenkten den Vampiren Unsterblichkeit …‹ Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken. Genau so ist es …
Ihr kam es vor, als würden unsichtbare Lippen ihren Hals berühren, genau an der Stelle, wo ihre Vene pulsierte. Dort, wo Rhys Llewelyn sie vor wenigen Wochen gebissen hatte.
Sie hatte es so gewollt. Sie hatte ihn dazu verführt, damit es passierte. Und jetzt, wo es zu spät war, fragte sie sich, was sie da eigentlich getan hatte.
»Viele folgten der Stimme ihres Herzens. Einige wurden dazu gezwungen. Doch jede unserer Handlungen hat Folgen, und nur selten kann das, was geschehen ist, rückgängig gemacht werden. Wir können nur erhobenen Hauptes unsere Schuld auf uns nehmen und den Preis bezahlen, wie hoch er auch sei.«
Winters Schultern erbebten. Also gab es noch andere, tief in der Vergangenheit versunkene Unsterbliche. Wollte sie den Ausgang der Geschichte wirklich kennen?
»Was willst du mir damit sagen?« Die Frage entwich ihr, bevor sie sich zurückhalten konnte.
»Dass die MACHT immer durstiger macht und der DURST nur mit Blut gelöscht werden kann. Die MACHT braucht Nahrung, mein Kind. Kein Vampir ist über längere Zeit stark genug, um diesem Drang zu widerstehen, ohne dass erst die Seele, dann der Verstand vom Feuer verzehrt werden.«
Bethan hob den Kopf und sah Winter an. Sie hatte den geheimnisvollen Blick einer antiken Priesterin. Ihre Augen sahen sie vielleicht gar nicht wirklich, und dennoch wusste Winter mit Sicherheit, dass sie Rhys’ Antlitz in ihrem Geist erkannt hatte.
»Einige gehen dabei auch körperlich zugrunde«, sagte die Frau. »Die anderen wurden getötet. Von demjenigen, der sie geschaffen hatte.«
D as kann nicht sein …«
Winter starrte Bethan verwirrt an. Eiskalte, vor Angst klamme Finger drückten ihr die Kehle zu.
Die Augen der Frau klärten sich wieder, sie
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