Die Akte Kachelmann
online zu sein, wenn er nicht ausnahmsweise einmal schläft.
Jetzt, kurz vor drei Uhr in der Früh, versucht der Nachtaktive, via Internet mit seiner Exfrau in Kanada zu regeln, wann er seine beiden Kinder während der Olympischen Spiele sehen kann. Jörg Kachelmann chattet mit dem Informatikchef seiner Firma. Es läuft nicht rund mit den bald noch wichtigeren Übertragungen der Wetterdaten aus Übersee.
Schreibt hier einer E-Mails am laufenden Meter, der kurz zuvor eine Frau vergewaltigt hat? Oder sind die harmlosen Nachrichten ein Indiz dafür, dass Jörg Kachelmann sich nichts zuschulden kommen lassen hat? Die nächtlichen Botschaften zeigten, so wird die Verteidigung argumentieren, dass der Angeklagte «normal funktionierte».
Sonja A. hat irgendwann mitten in der Nacht den Staubsauger in der Hand. Plötzlich fragt sie sich: Was mache ich hier eigentlich? Alles so Sachen, wird sie sagen, so bescheuertes Zeug. Unten schlafen die Nachbarn. Duschen möchte sie. Doch das, so viel habe sie gewusst, darf sie nicht, wenn sie zur Polizei gehen will. Stattdessen spült sie einen Teil des Geschirrs, von dem Jörg Kachelmann und sie gegessen haben, sie reinigt eine Pfanne.
Handelt so ein Vergewaltigungsopfer? Kann sein, sagen Experten. Es wäre, erklären sie, wie beim Motorradfahrer, der an der Unfallsstelle seine Maschine poliert, während sein Sozius entstellt im Straßengraben liegt. Welt-, Fremd- und Selbstbild sind aus den Fugen geraten. Bizarre Handlungen drücken maßlosen Schrecken aus. Vielleicht aber ist Sonja A. auch nur schockiert durch den plötzlichen, so schmerzvollen Weggang des Mannes, mit dem sie in ihren Träumen alt werden wollte.
Dieser Mann tritt nun durch die Glasschiebetür in die Lobby des Holiday Inn Express Frankfurt-Airport, dreizehn Kilometer südlich des Flughafens, mitten im Stadtwald. Die Rezeptionistin erkennt den Fernsehpromi nicht, wofür sie sich am vierten Tag des Vergewaltigungsprozesses etwas schämen wird. Aber immerhin erinnert sich die erste Augenzeugin nach der mutmaßlichen Tat noch an einen «sehr angenehmen Besuch». Der Herr habe «freundlich alle Personalien ausgefüllt». Und die Hotelangestellte fügt hinzu: «So würde ich mir die Gäste immer wünschen.» Sie weiß von «Smalltalk, ganz sympathischem Smalltalk» zu berichten. Ob sie eine Verletzung bemerkt habe, will das Landgericht Mannheim wissen. Sie verneint. Im Holiday Inn bezieht Kachelmann das Zimmer 201. Check-in-Zeit ist 3.26 Uhr.
Ob er Verletzungen bei Sonja A. bemerkt habe, wird Jörg Kachelmann eineinhalb Monate später vom Mannheimer Haftrichter gefragt werden. «Sie muss sich diese Verletzungen selber zugebracht haben», wird der Verdächtige aussagen. «Als ich die Wohnung verlassen habe, hatte sie keine.» Auch mehrere Rechtsmediziner werden es für wahrscheinlich halten, dass sich Sonja A. eigenhändig schier unerträgliche Schmerzen am Hals und an den Oberschenkeln zugefügt hat. Und dass sie sich zudem in den einen Arm, in ein Bein und den Bauch schnitt.
Rächt sich Sonja A. an dem Mann, von dem sie seit Wochen oder sogar Monaten ahnt, dass er sie hintergeht? Führt sie einen hinterhältigen Plan aus, den sie vielleicht seit Längerem ausgeheckt hat? Oder beschränken sich die irrationalen, die seltsamen Dinge, die Sonja A. in jener Nacht tut, aufs Aufräumen und Abwaschen? Trägt sie in diesen Nachtstunden einen Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt aus? So benennt die Aussagepsychologie das, wovon die Schwetzinger Radiomoderatorin erzählt. Bei einem klassischen Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt ist ein Gewaltopfer hin- und hergerissen: Soll ich zur Polizei? Muss ich? Was spricht dafür? Was dagegen?
Gepeinigte wägen ab: zwischen möglichen Sanktionen und Reaktionenauf der einen Seite, und dem Wunsch nach Bestrafung des Täters und dem Schutz potenzieller Opfer auf der anderen. Viele gehen nie zur Polizei. Andere wiederum, die nicht misshandelt worden sind, tun es. Sie versuchen, sich in Falschaussagen ähnlich zu äußern wie Vergewaltigte.
In ihrem Kopf habe es gerattert, wird Sonja A. später sagen. Was wird er tun? Sie töten? Kann sie es totschweigen? Kann sie die öffentlichen Reaktionen ertragen? Als Sonja A. einmal im Fernsehen von der Dunkelziffer hörte, so wird sie erzählen, von Frauen, die solche Taten nicht anzeigen, habe sie sich immer gedacht: Mein Gott! Das darf doch nicht sein! Man darf einen Vergewaltiger nicht frei herumlaufen lassen!
Aber nun, in ihrem Elend, habe sie auf
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