Die Akte Kachelmann
Februar.
Der Schwetzinger Kripo-Ermittlungsleiter Horst D. greift zum Telefonhörer. Der Kriminalhauptkommissar informiert Oberstaatsanwalt Oskar Gattner im nahen Mannheim, dass der Tatverdächtige nach Kanada fliegen will, um fürs Fernsehen über das olympische Wetter zu berichten. Laufen lassen oder verhaften? Das ist die Frage. Die Staatsanwaltschaft muss entscheiden. Sie steht unter Zeitdruck.
Nach dem Gespräch, das sie so bewegt habe, kurz vor Mittag, erhält die Försterin aus Norddeutschland eine SMS. Ihm gehe es nicht gut, hat Kachelmann getippt, aber er habe sich, wie versprochen, nochmals melden wollen. Schreibt hier ein Vergewaltiger? Würde ein Sexualstraftäter eine solche SMS verfassen, die in einem Verfahren gegen ihn verwendet werden kann? Geht es Jörg Kachelmann aus einem anderen Grund schlecht? Die Kurzmitteilung jedenfalls wird ein Indiz in der Strafsache Jörg Kachelmann werden. Doch wie ist sie zu deuten? Gerichtspsychiater Hartmut Pleines, der den Angeklagten begutachten wird, wird eine Erklärung liefern: Die «Entlarvung», wohl von Kachelmanns Mehrfachleben, habe «alle Auffälligkeiten» hervorgerufen.
Sonja A. gibt eine Speichelprobe ab. Wieder und wieder fragt sie, ob er schon festgenommen worden sei. Die Beamtinnen aus Schwetzingen, die sie begleiten, wissen es nicht.
Nach 12.20 Uhr drückt Sonja A. dem Leiter der Rechtsmedizin der Universitätsklinik Heidelberg, Professor Rainer Mattern, einen Stift an den Hals. Sie soll simulieren, was ihr widerfahren ist.
Jörg Kachelmann passiert die Passkontrolle. Er wird nicht festgenommen. Durch hastige Abklärungen hat die Staatsanwaltschaft Mannheim zwar erfahren, dass der Schweizer Staatsangehörige in Deutschland keinen festen Wohnsitz hat. Trotzdem hat sie entschieden: Nicht herantreten! Sie lässt Jörg Kachelmann fliegen. «Wir hatten», wird Oberstaatsanwalt Gattner später erklären, «seinerzeit Bedenken hinsichtlich eines dringenden Tatverdachts.» Ihm liegen noch keine Bewertungen der medizinischen Befunde vor und nochkeine Spurenauswertung vom angeblichen Tatort. Die Staatsanwaltschaft verfügt erst über eine Abschrift der 45-minütigen «Geschädigten-Befragung» der Anzeigeerstatterin. Die Angaben darin findet sie dürftig. Die Beweislage ist dünn. Bei erfahrenen Kriminalisten schrillen die Alarmglocken, wenn sie von Vergewaltigungen nach Beziehungsstreitigkeiten hören. Wer länger im Dienst ist, hat schon zu viele Falschbeschuldigungen gehört. Gerade bei Prominenten sind Ermittler besonders vorsichtig, denn sie wissen, dass eine öffentliche Karriere schnell ruiniert ist, wenn ein solcher Vorwurf ruchbar wird. Bei Jörg Kachelmann wird dies sechs Wochen später der Fall sein.
Als der Wettermann seinen Flieger besteigt, wirkt er «lässig». So wird sein Sitznachbar aus der Businessclass sagen. In den weiten Jeans, im Hemd und im Mantel, wie ihn Cowboys trügen, habe Jörg Kachelmann ausgesehen «wie ein Kanadier».
Die medizinischen Untersuchungen sind abgeschlossen. Der Dienstwagen der Kripo Schwetzingen bringt Sonja A. zurück auf die Wache.
Der Airbus mit Jörg Kachelmann auf Fensterplatz 7K fliegt nonstop nach Vancouver, British Columbia, Kanada. Flugdauer: 10 Stunden 35 Minuten.
«Schlimmer als übernächtigt» habe Sonja A. auf der Rückfahrt ausgesehen, wird die Polizistin Karen M. am fünften Prozesstag aussagen, «sie war richtig fertig.»
Jörg Kachelmann schläft während des Fluges die meiste Zeit, «99,5 Prozent», laut seinem Sitznachbarn.
Sonja A. erfährt von der Polizei, dass er nicht festgenommen wurde. Ist er überhaupt geflogen? Kommt er heimlich zurück? Irgendwie über Umwege? Steht er plötzlich vor der Tür? Sonja A. fühlt sich ohnmächtig, sagt sie.
Doch die Treppen zu ihrer Dachwohnung im SchwetzingerNordwesten steigen zwei andere Männer und eine Frau hinauf. Bevor sie eintreten, schlüpfen sie in weiße Schutzanzüge und ziehen sich Plastikhandschuhe über. Die Kollegen von der Schwetzinger Kripo haben ihnen den Wohnungsschlüssel von Sonja A. gegeben und den Auftrag, alles auf Spuren einer Vergewaltigung abzusuchen. Vermutlich würden sie auf dem Boden ein Messer finden. Zu sichern sei auch ein Brief in einem Karton unter der Stereoanlage.
Die beiden Kriminaltechniker und die Praktikantin betreten die Wohnung. Das Team rückt pro Jahr mehr als ein Dutzend Mal nach Vergewaltigungsanzeigen aus. Doch der Einsatz im Kleinen Feld ist für sie – wegen des prominenten Beschuldigten –
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