Die Akte Kachelmann
an diesem Morgen. Die Möglichkeit, dass dem so sein könnte, weil sie gerade eine folgenschwere Falschbezichtigung begeht, spielt bei der Schwetzinger Polizei keine Rolle. Wenigstens nicht in diesem frühen Stadium der Ermittlungen. Dem mutmaßlichen Opfer, in den Polizeiprotokollen «Geschädigte» genannt, wird geglaubt. Das Hinterfragen hat Zeit. Zuallererst gilt es,Spuren zu sichern. Sofortmaßnahmen zu ergreifen. Eine eventuelle Flucht des möglichen Täters zu verhindern.
Kurz vor zehn Uhr findet sich Sonja A. auf dem Rücksitz eines Schwetzinger Polizeiautos wieder. Die junge Polizistin Karen M., die fährt, wirft einen Kontrollblick in den Rückspiegel. Sie sieht hinter sich eine fahle Frau. Es ist niemandem nach Reden zumute. Nach wenigen Minuten hält der Wagen vor der Heidelberger Frauenklinik. In der Notfallambulanz untersucht eine Assistenzärztin Sonja A. Den Intimbereich, den Hals und die Verletzungen an den sportlichen Beinen, die das mutmaßliche Opfer soeben entdeckt hat. Oder eben erst entdeckt haben will?
Die Untersuchung nach Vergewaltigungsanzeigen ist standardisiert: Blut wird entnommen und eine Urinprobe gehört dazu. «Am Hals, am linken Unterschenkel und am linken Unterarm zeigen sich rötliche Striemen», hält die Medizinerin in ihrem Bericht fest, den sie vor Gericht erläutern wird. «An beiden Oberschenkel-Innenseiten zeigen sich handtellergroße rötlich-bläuliche Hämatome. Die Patientin äußert Schmerzen in dem Bereich.» Auf die Gynäkologin wirkte Sonja A. sehr ruhig, gefasst. Sie weint nicht.
Um 10.32 Uhr checkt Jörg Kachelmann aus dem Holiday Inn Express Frankfurt-Airport aus. Er, der so gern flirtet, scherzt noch mit der Rezeptionistin, weil er nicht richtig im Computersystem der Hotelkette eingebucht ist. Dann müsse er ja auch nicht bezahlen, witzelt er. Die Rechnung über 85 Euro begleicht er dann doch mit der Kreditkarte.
Die Assistenzärztin in der Heidelberger Frauenklinik hat in ihren wenigen Berufsjahren etwa zehn Frauen untersucht, die sagten, sie seien vergewaltigt worden. Unterschiedlichste Verletzungen hat sie gesehen. Darunter, einmal, ähnliche Hämatome wie bei Sonja A. «Sie können entstehen», wird die Gynäkologin erklären, «wenn die Beine auseinandergedrückt werden.»
Um 11.01 Uhr parkt Jörg Kachelmann im Parkhaus des Terminal 1 des Frankfurter Flughafens. Etwas schief steht der Wagen auf Stellplatz Nummer 29, eineinhalb Monate lang.
Jörg Kachelmann telefoniert kurz mit einer früheren Partnerin, die nach dem 14. Prozesstag viel Aufsehen erregen wird: Jana B., eine Försterin aus Norddeutschland, früher deutsche Meisterin im Luftgitarrespielen, besetzte als Umweltaktivistin mächtige Bäume an einer Allee bei Berlin. Unterstützung bei der erfolgreichen Rettungsaktion erhielt sie auch von Jörg Kachelmann, mit dem sie eine lose intime Beziehung unterhalten hat. Der Zufall will es, dass sie ihn just an diesem Februarmorgen kontaktiert.
Erst ein halbes Jahr später, nach der Freilassung ihres Exgeliebten und nach langem Ringen mit sich selbst, wird sich die Försterin bei den Mannheimer Ermittlern melden. Sie wird von einem Telefongespräch berichten, das sie am 9. Februar mit Jörg Kachelmann geführt hat und das sie verstört habe.
Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge wird der Aussage dieser Zeugin höchste Priorität beimessen. Persönlich reist der Anklagevertreter im August 2010 durch halb Deutschland, um 29-Jährige zu befragen. Bei allen weiteren Zeuginnen und Zeugen hat es ausgereicht, wenn Polizisten die ersten Vernehmungen durchführten.
Auf der Polizeidienststelle in Lüneburg hat Jana B. Oltrogge dann so viel zu erzählen, dass für die Vernehmung ein Arbeitstag nicht ausreicht: Als Studentin habe sie Jörg Kachelmann vor vier Jahren kennengelernt. Die Beziehung, die daraus entstanden sei, schildert sie als unkonventionell, nicht sehr verbindlich, sporadisch intensiv, mit unregelmäßigen Treffen. Sie berichtet auch von Kontroversen, Unterwerfungsritualen und Übergriffen. All das bewegt sich im legalen Rahmen. Jedenfalls wird es den angereisten Mannheimer Staatsanwalt nicht dazu veranlassen, die Anklage auszuweiten.
Lars-Torben Oltrogge protokolliert, wie Jörg Kachelmann auf die Zeugin gewirkt habe. So komplett aufgelöst, sagt die Försterin, habe sie ihn noch nie erlebt. Sie befürchtet wegen des kurzen Gesprächs Schlimmstes. Ist seiner Mutter etwas zugestoßen? Seinen Kindern? Das habe sie sich gefragt an jenem 9.
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