Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
stehen dürfen, er war für die Wochenendbereitschaft eingeteilt, und das hieß, er musste jederzeit telefonisch erreichbar sein. Normalerweise gab man am Alex immer die aktuelle Telefonnummer durch, unter der man zu erreichen war, wollte man nicht das ganze Wochenende zu Hause neben dem Telefon verbringen. Rath vermutete, dass sich Buddha Ernst Gennat, der Leiter der Mordinspektion, allein anhand der Rufnummern, die während der Rufbereitschaft hinterlassen wurden, ein genaues Bild von den Gewohnheiten seiner Beamten machen konnte, welche Kneipen sie so besuchten, welche Restaurants, Theater, Kinos, Sporthallen, Rennbahnen, vielleicht auch welche Frauen. Genau deswegen blieb Rath nach Möglichkeit zu Hause, wenn es ihn traf. Genau wie heute, nur dass er niemandem am Alex Bescheid gesagt hatte, dass er kurz zum Bahnhof Zoo raus war. Er würde eine halbe, vielleicht eine Dreiviertelstunde weg sein, was sollte da schon passieren?
In der letzten Zeit hatte es kaum Mordfälle gegeben – wenn man die Kommunisten und Nazis nicht mitzählte, die einander mit wachsendem Vergnügen totschlugen, seit die neue Reichsregierung als eine ihrer ersten Amtshandlungen das SA – Verbot der Regierung Brüning wieder einkassiert hatte. Erst gestern hatte es im Wedding und in Moabit Schießereien gegeben. Das Ergebnis: ein toter Nazi, acht Verletzte. Um diese Fälle kümmerte sich die Revierkripo, vom Alex kamen da, wenn überhaupt, nur die Beamten der Politischen Polizei raus. Ansonsten hatten vor allem Selbstmorde Konjunktur, nach wie vor: Im Grunewald hatte sich jemand den Kopf weggeschossen, in der Bernauer Straße eine Frau ihr fünfjähriges Kind aus dem Fenster geworfen und war hinterhergesprungen. Der alltägliche Wahnsinn also.
Selten war Gereon Rath die Arbeit in der Mordinspektion so sinnlos vorgekommen wie in der jüngsten Zeit. Er hatte immer gedacht, die Polizei sei dazu da, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen; mittlerweile aber kam es ihm so vor, als seien sie nur noch diejenigen, die die Scherben zusammenkehrten.
Der Lautsprecher auf dem Bahnsteig kratzte, und dann kündigte eine militärisch schnarrende Stimme an, der Nordexpress werde mit etwa zehn Minuten Verspätung in Berlin eintreffen. Rath schnippte die Overstolz auf den Bahnsteig und zündete sich gleich die nächste an. Dann eben noch eine Zigarettenlänge warten. Er spürte, dass er umso nervöser wurde, je länger ihr Zug auf sich warten ließ. Außer ihm war sonst niemand am Bahnhof, kein Grinsemann, keine Greta, niemand, der hätte stören können, zwei Anrufe hatten gereicht, um das sicherzustellen. Rath wusste, dass die meisten von Charlys Freunden ihm ohnehin nicht gern über den Weg liefen, schon immer hatten sie ihn irgendwie gemieden. Oder er sie, so genau wusste er das nicht. Mit all diesen Juristen und Studenten hatte er jedenfalls noch nie etwas anfangen können.
Er musste daran denken, wie er Charly zum Bahnhof gebracht hatte letzten Herbst und wie beschissen er sich dabei gefühlt hatte. Nun endlich kam sie zurück, und er fühlte sich kaum besser, obwohl er nichts so sehr herbeigesehnt hatte wie diesen Moment. Ein Semester hatte sie in Paris bleiben wollen, dann waren es doch zwei geworden. Sie hatten sich viel geschrieben in der Zeit und auch telefoniert, aber nur ein einziges Mal gesehen, ein paar Wochen nach ihrer Abfahrt, als sie sich in einem Hotelzimmer in Köln getroffen und nach einer hektischen Liebesnacht wieder verabschiedet hatten. Und dann war sein lange geplanter Weihnachtsbesuch in Paris ins Wasser gefallen, weil er keinen Urlaub hatte nehmen können. Ein Auftragsmörder hatte Berlin unsicher gemacht, ein Scharfschütze, der seine Opfer mit einem einzigen präzisen Schuss ins Herz erledigte und keine Spuren hinterließ. Sein erstes Opfer, einen halbseidenen Rechtsanwalt, hatte es vor dem Opernhaus in Charlottenburg erwischt, nur das Projektil hatte der Mörder zurückgelassen, keinerlei weitere Spuren, und Czerwinski, der dicke Kriminalsekretär, hatte noch am Tatort gewitzelt: »Vielleicht war es ja das Phantom der Oper.« Damit hatte der Mörder seinen Namen weg, einen Namen, den auch die Hauptstadtpresse dankbar aufgegriffen hatte.
Das Phantom, wie der Todesschütze seither auch im internen Dienstgebrauch genannt wurde, hatte Rath eine weihnachtliche Urlaubssperre beschert, und er hatte sich damit getröstet, dass Charly ja schon Mitte Februar zurückkehren werde. Oder sie das Phantom noch vor Silvester schnappen würden
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