Die Akte
war.
Mabry wusste, dass Jensen keineswegs ein Freund gewesen war, aber er war ein frisch ermordeter Richter, dem sicherlich eine von den Medien stark beachtete Beisetzung zuteil werden würde.
Dann hatte Coal angerufen und gesagt, sie wüssten noch nicht, ob der Präsident teilnehmen würde, aber er sollte für alle Fälle etwas aufsetzen. Mabrys Büro lag im Old Executive Office Building neben dem Weißen Haus, und im Laufe des Tages waren Wetten darüber abgeschlossen worden, ob der Präsident an der Beisetzung eines bekanntermaßen Homosexuellen teilnehmen würde oder nicht. Die Wetten standen drei zu eins, dass er es nicht tun würde.
»Wesentlich besser, Dick«, sagte Coal und faltete das Blatt zusammen.
»Mir gefällt es auch«, sagte der Präsident. Mabry war längst aufgefallen, dass der Präsident gewöhnlich abwartete, bis Coal sich beifällig oder ablehnend über seinen Text geäußert hatte.
»Ich kann es noch einmal versuchen«, sagte Mabry, der inzwischen aufgestanden war.
»Nein, nein«, erklärte Coal. »Das klingt genau richtig. Sehr erschütternd. Mir gefällt es.«
Er begleitete Mabry zur Tür und machte sie hinter ihm zu.
»Was meinen Sie?« fragte der Präsident.
»Wir sollten die Finger davon lassen. Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Publicity wäre großartig, aber Sie würden diese wundervollen Worte über einen Toten sprechen, den man in einem Pornokino für Schwule gefunden hat. Zu riskant.«
»Ja. Ich glaube, Sie haben...«
»Dies ist unsere Krise, Chef. Das Ergebnis der Meinungsumfragen ist noch besser geworden, und ich möchte einfach kein Risiko eingehen.«
»Sollten wir jemanden hinschicken?«
»Natürlich. Wie wäre es mit dem Vizepräsidenten?«
»Wo ist er?«
»Auf dem Rückflug von Guatemala. Er wird heute abend hier sein.« Coal lächelte plötzlich. »Genau das richtige für den Vizepräsidenten. Eine Schwulen-Beerdigung.«
Der Präsident kicherte. »Perfekt.«
Coal hörte auf zu lächeln und begann, vor dem Schreibtisch herumzuwandern. »Kleines Problem. Rosenbergs Trauerfeier ist Samstag, nur acht Blocks von hier entfernt.«
»Lieber würde ich für einen Tag in die Hölle gehen.«
»Ich weiß. Aber Ihre Abwesenheit würde sehr auffallen.«
»Ich könnte mit Rückenkrämpfen ins Walter-Reed-Hospital gehen. Das hat schon früher funktioniert.«
»Nein, Chef. Nächstes Jahr sind Wahlen. Sie müssen sich von Hospitälern fernhalten.«
Der Präsident hieb mit beiden Händen auf den Schreibtisch und stand auf. »Verdammt nochmal, Fletcher! Ich kann nicht zu seiner Trauerfeier gehen, weil ich pausenlos lächeln müsste. Neunzig Prozent aller Amerikaner haben ihn gehasst. Sie werden mich lieben, wenn ich nicht hingehe.«
»Protokoll, Chef. Guter Geschmack. Wenn Sie nicht hingehen, werden Sie von der Presse gekreuzigt. Was ist denn schon dabei? Sie brauchen kein Wort zu sprechen. Sie gehen nur hinein und wieder hinaus, sehen überaus traurig aus und lassen die Kameras zum Zuge kommen. Dauert nicht einmal eine Stunde.«
Der Präsident griff nach seinem Golfschläger und fixierte einen orangefarbenen Ball. »Dann muss ich auch zu Jensens Beisetzung.«
»So ist es. Aber vergessen Sie den Nachruf.«
Er schlug den Ball an. »Ich bin ihm nur zweimal begegnet.«
»Ich weiß. Sie sollten bei beiden Trauerfeiern erscheinen, nichts sagen und dann wieder verschwinden.«
Noch ein Schlag. »Ich glaube, Sie haben recht.«
9
T homas Callahan schlief lange und allein. Er war früh und nüchtern zu Bett gegangen. In den vergangenen drei Ta gen hatte er alle Vorlesungen abgesagt. Es war Freitag, morgen sollte die Trauerfeier für Rosenberg stattfinden, und aus Respekt vor seinem Idol würde er erst dann wieder Verfassungsrecht lehren, wenn der Mann in Frieden ruhte.
Er machte sich Kaffee und setzte sich im Bademantel auf den Balkon. Die Temperatur betrug nur achtzehn Grad, der erste kalte Hauch des Herbstes, und in der Dauphine Street herrschte reges Treiben. Er nickte einer namenlosen alten Frau auf dem Balkon an der anderen Straßenseite zu. Bourbon Street war einen Block weit entfernt, und die Touristen waren bereits mit ihren Stadtplänen und Kameras ausgeschwärmt. Den Tagesanbruch nahm im French Quarter niemand zur Kenntnis, aber um zehn wimmelte es auf den engen Straßen von Lieferwagen und Ta xis.
In diesen späten Morgenstunden, und von denen gab es viele, freute sich Callahan seiner Freiheit. Sein Jurastudium lag zwanzig Jahre zurück, und viele seiner
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