Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
Andersartigkeit bestimmt. Als dann im Lauf der Zeit Dinge in dem ihr aufgezwungenen Lebens tatsächlich ihren Schutzschild durchdrangen – eine widerwillige Vertrautheit mit ihren Dienstmädchen, eine Vorliebe für bestimmte Teegeschäfte –, erweiterte sie im Grunde ihre Privatsphäre bloß um diese neuen Vergnügungen, legte jedoch ihre grundlegende Distanz keinesfalls ab. Jetzt beherbergte dieser Privatbereich, diese feste Burg, lediglich noch die Gefühle von Demütigung und Verrat. Sogar ihr Hass auf die Contessa war stumpf geworden, zum einen wegen der zügellosen Begierde, die ihren Körper wie eine Infektion befallen hatte, und zum anderen, schlimmer noch wegen ihrer Furcht, dass allein die Contessa verstand, wie verdorben ihre Seele geworden war, so verächtlich es auch sein mochte.
Sie fragte sich, wie viele Menschen die Contessa tatsächlich ermordet hatte und warum sie selbst so häufig verschont geblieben war. Gewiss hatte es die Contessa ein- oder zweimal ernsthaft versucht, doch bei so vielen anderen Gelegenheiten hatte die Frau darauf verzichtet. Sobald man sich jemanden zum Feind gemacht hatte, glaubte Miss Temple – die schreckliche Cynthia Hobart zum Beispiel, deren Plantage auf der anderen Flussseite lag –, musste man endlos gegen ihn angehen. Moralische Spitzfindigkeiten – dass man nicht nur heuchelte, während man den richtigen Augenblick für den entscheidenden Schlag abwartete, sondern wirklich zuließ, dass sich die Gefühle änderten – verursachten ihr ein ungutes Gefühl in der Magengrube.
Sie schüttelte die Gedanken ab. Sie waren in den Spiegelgang zurückgekehrt, den sie mit Colonel Bronque entlanggegangen waren.
»Endlich«, seufzte die Contessa. »Hoffentlich finden wir eine Kutsche – che cavolo!«
Vier Soldaten und ein ausdrucksloser Mann mit Drahtgestellbrille und Bärtchen, dessen Spitze er mit zwei grau behandschuhten Fingern zwirbelte, verstellten ihnen den Weg.
»Mr. Schoepfil.« Die Contessa ließ Miss Temples Hand los. »Ich habe mich schon gefragt, ob ich das Vergnügen haben würde.«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits«, erwiderte Mr. Schoepfil. »Ich bestehe darauf.«
Miss Temple drehte sich um und rannte los, doch eine weitere Reihe Soldaten versperrte ihr den Weg. Sie wurde in einen leeren Raum gebracht und ohne ein Wort allein gelassen.
Miss Temple wartete grundsätzlich nicht gern, aber da sie es nun tun musste, ohne zu wissen, wo sie sich befand, kam sie sich hilflos wie ein Kind vor. Sie blickte aus dem Fenster des kleinen Raums und fragte sich, ob sie es einfach einschlagen und hinausklettern sollte. Allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, so viele Stufen hinaufgestiegen zu sein, denn sie befand sich in mindestens zehn Metern Höhe über einem hässlich bekiesten Innenhof.
Sie fragte sich, ob die Contessa ihr die Schuld an Lady Hoptons Tod in die Schuhe schieben würde. Und wer war dieser Mr. Schoepfil – noch ein Liebhaber wie Bronque? Sie dachte an die Interesselosigkeit, die ihrer Anwesenheit im Boniface entgegengebracht wurde, wo man sie im Grunde nur duldete. Und was war mit den Leuten, die sie während ihrer Romanze mit Roger Bascombe getroffen hatte? Nicht alle hatten zu Rogers engen Freunden oder zur Familie gehört; und ein paar hätten vielleicht, wenn sie es gewünscht hätte, den Kontakt zu ihr aufrechterhalten. Doch es hatte kaum einen Besuch gegeben.
Ihre Handtasche mit Rogers Notizbuch hatten ihr die Soldaten weggenommen, ohne dass sie es überhaupt gelesen hatte. Miss Temple wünschte sich, das Ding nie gesehen zu haben, und verabscheute sich zugleich für ihre Neugier. Sie legte den Kopf in die Hände und seufzte.
Mit einem leichten Ekelgefühl sah sie auf und ging zu einem Wandpaneel mit einem Knauf. Ihr Mundraum brannte. Sie öffnete das Paneel weit. In der Mitte eines leeren Raums stand ein Tisch mit einem Wachstuch darauf. Ein zweites beschmutztes Quadrat aus Wachstuch schützte den Boden darunter.
In den Erinnerungen des Comte erwachte der schreckliche Gestank des nekrotischen Gewebes zum Leben, dem er zum ersten Mal in einem Pariser Atelier begegnet war, doch was Miss Temple eigentlich erkannte, stammte aus ihrem eigenen beschmutzten Leib, aus dem Buch.
Sie hob das Wachstuch an. Ihr Magen zog sich zusammen. Was sie auch erwartet haben mochte, das hier war etwas völlig anderes. Ihr Mund füllte sich mit Speichel, und sie fuhr herum und wollte sich übergeben, konnte es jedoch nicht. Wie um sich selbst zu
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