Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
bestrafen, griff Miss Temple erneut nach dem Wachstuch und zog es weg. Francesca Trapping lag auf dem Tisch wie eine kaputte und zerfranste Puppe, die jemand vergessen hatte. Man hatte sie aus dem Kleid herausgeschnitten, und auch Teile ihres Leichnams waren entfernt worden, wie man an den Kavitäten erkennen konnte, die man ihr mit grenzenloser Grausamkeit zugefügt hatte. Miss Temple presste sich die Faust an den Mund und zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. Sie hatte das Mädchen im Stich gelassen. Sie hatte die Explosion im Zollhaus ausgelöst. Das war ihr Werk.
Im Bewusstsein einer unfassbaren Dummheit spürte sie, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Die klaffenden Löcher … fehlende Körperteile des Mädchens. Das war wie bei den Opfern von Raaxfall, aus deren Körpern man die Stücke verwandelten Fleisches entfernt hatte … aber … aber nein, es war nicht das Gleiche. Diese Öffnungen waren gezackt und ungleichmäßig gewesen, geformt von blauem Glas, das an die Stelle des Fleischs getreten war. Diese Schnitte hier waren präzise und sauber … chirurgisch.
Sie blickte hinab auf die blutleeren kleinen Hände, die nach innen gedrehten Füße, sodass sich die großen Zehen berührten – und sie stellte fest, dass man die Kleidungsstücke tatsächlich aufgeschnitten hatte. Der Stoff war nicht zerrissen oder verbrannt und auch nicht blutverschmiert – es gab keine Anzeichen für einen gewaltsamen Tod. Noch wichtiger war – bei dem Gedanken musste sie würgen –, dass die Öffnungen in Francescas Körper nicht von irgendeiner Explosion stammen konnten. Mit Hilfe der anatomischen Kenntnisse des Comte erkannte sie, was entfernt worden war: Niere, Milz, Lunge, Herz, Schilddrüse, sogar der Gaumen aus dem geöffneten Mund … Francesca war bewusst seziert worden, wie ein Gehenkter, den man an die Wissenschaft verkauft hatte. Sie war nicht im Zollhaus ums Leben gekommen. Das Buch des Comte hatte sie vergiftet, wobei ihre Organe völlig verwest waren.
Wie lange würde es dauern, bis Miss Temple selbst daran zugrunde gehen würde?
Es war kein hochherziger Gedanke, und sie schämte sich. Das getötete Kind lag vor ihr. Der kleine Mund aufgerissen, schieferfarbene Lippen, die von der Extraktion der Zähne mit Blut verschmiert waren. Wie um alles in der Welt war Francesca Trapping hierher gekommen? Das Wissen um die Alchemie des Comte war einem extrem kleinen Personenkreis vorbehalten, und die meisten waren bereits unter der Erde. Francescas Sezierung warf auf diesen Mr. Schoepfil, der sowohl Miss Temple als auch Francescas Leiche in seiner Gewalt hatte, ein viel entsetzlicheres Licht.
Francescas Kleid hing wie zerrissenes Geschenkpapier vom Tisch herab. Miss Temple fragte sich, wann das Kleid gekauft worden war und von wem, ob es ein letztes Andenken von der Mutter des Mädchens gewesen war, oder etwas, das die Contessa für ihren Aufenthalt in den Tunneln entwendet hatte. Ein zweckmäßiges Kleidungsstück, ordentlich vernäht. Miss Temple legte den Kopf schief … manche Teile schienen doppelt so dick zu sein.
Die erste Tasche enthielt ein wirres Büschel Haare, das nachlässig mit einem Band zusammengebunden war.
Miss Temple erkannte die Haarfarbe. Es stammte von Charlotte Trapping, nicht von ihrem Kopf, sondern von Francesca aus der Haarbürste ihrer Mutter gezogen. Das Mädchen hatte es immer bei sich gehabt, von Mrs. Trappings Verschwinden bis zum Ende. Miss Temple schob es zurück. In der zweiten Tasche steckte ein kleines Lederetui wie für das Monokel des Doktors. Sie klappte es auf, und ein blauer Glasschlüssel auf orangefarbenem Filz kam zum Vorschein.
Miss Temple steckte das Schlüsseletui in ihre Tasche und drehte sich um, weil aus dem Vorraum ein Schlurfen ertönte. Ein großer Mann mit gestärktem Kragen, dessen markante Züge von abstoßenden Haarbüscheln in seinen Ohren konterkariert wurden, spähte missbilligend an der geöffneten Paneelwand vorbei.
»Wer sind Sie?«, fragte Miss Temple, bevor er etwas sagen konnte.
»Ich bin Mr. Kelling.«
»Warum halten Sie eine solche Tür nicht verschlossen, Mr. Kelling, anstatt zuzulassen, dass sich ahnungslose Frauen einem solch schockierenden Anblick aussetzen müssen? Er ist erbärmlich und grausam!«
Mr. Kelling sah sie an. »Man hatte Ihnen befohlen zu warten.«
»Bei dem Gestank? Mir ist ganz schlecht. Ich brauche frische Luft.«
»Natürlich. Wenn Sie mir folgen würden.«
Kelling trat beiseite. Unter dem Arm hatte er einen
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