Die andere Seite des Glücks
wenn Zach dafür am Leben bliebe.
Paige und ich sprachen kaum. Wir warteten, versuchten mit Willensstärke zu erreichen, dass Zach die Augen öffnete, dass er
Mama
oder
Mommy
sagte, was auch immer. Vollkommen egal. Manchmal sah ich auf, und auch sie blickte auf, und unsere Augen drückten Bedauern und Angst und Traurigkeit und Schmerz und gute Absichten und Hoffnung und Mutterliebe aus – all die Dinge, die wir gemeinsam hatten, die schon immer da gewesen waren, aber nicht von uns wahrgenommen werden konnten. Weil wir nur die Bedrohung sahen, die wir füreinander darstellten.
Im Aufenthaltsraum rief ich David mit dem Mobiltelefon an, und er traf am späten Nachmittag mit Marcella und Joe senior ein. Meine Mutter war auf dem Weg von Seattle hierher. In dem kleinen, abgegrenzten Bereich war kein Platz für Feindschaft und Betretenheit, und wir alle nahmen einander in die Arme, hielten uns fest, als würde unser Leben davon abhängen, so wie auch Zachs am seidenen Faden hing. Marcella drückte mich, ihre Tränen regneten auf meinen Nacken, und Joe senior drückte Paige, und dann drückte ich David und Joe senior. Wir standen im Kreis um Zach herum, und wieder einmal dachte ich an Redwoodbäume, die ihre Familienkreise bildeten, sich gemeinsam nach der Sonne streckten und gemeinsam ihre langen Schatten warfen. Ein Krankenpfleger namens Lester kam herein und sah nach Zach, nach den Echoimpulsen auf den Monitoren, notierte etwas auf dem Krankenblatt, und als Joe senior ihn nach der Prognose fragte, sagte er: »Das kann man wirklich nicht sagen. Wir müssen abwarten, wie es morgen früh aussieht.« Er nickte, selbst als er schon zu Ende gesprochen hatte, und sah uns nacheinander an. »Nur Familienangehörige dürfen in der Intensivstation sein. Sie gehören alle zur Familie?« Wir nickten. »Glückliches Kind.« Dann sagte er: »Wenn Sie noch nichts gegessen haben, ist jetzt eine gute Gelegenheit. Sein Zustand ist stabil.« Nach Essen war mir ganz bestimmt nicht, aber Marcella, Joe senior und David beschlossen, Kaffee zu besorgen.
Als sie die Tür aufmachten, drangen das eilige Rattern von Rollwagen und fahrbaren Krankentragen vom Flur herein, die Stimmen von Ärzten und Krankenschwestern, Mitarbeiter wurden über Lautsprecherdurchsagen gesucht, helles Neonlicht und der ferne Geruch von Makkaroni mit Käse. Die Tür ging zu, und bis auf das Piepen und leise Summen der Maschinen war es wieder still im Raum.
»Paige.« Ich sah sie über Zach hinweg an. »Es tut mir so leid.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, sagte nichts weiter. Ich schloss die Augen und fuhr fort mit meinen stummen, inständigen Bitten an Gott, Zach zu retten. Schließlich sagte sie: »Ich habe das alles falsch angefangen. Ich habe falsch gehandelt. Ich hätte es nicht jetzt tun dürfen, nicht gleich nach Joes Tod. Ich hatte schon vorher mit meinem Anwalt gesprochen, und er hatte mir geraten, das Verfahren einzuleiten, doch ich hätte es besser wissen müssen. Ich hatte schon so lange gewartet – aus vielerlei Gründen.«
Mit der freien Hand zog sie ein Taschentuch aus ihrer Tasche, mit der anderen hielt sie weiter Zachs Hand. Wieder schwieg sie eine Weile und fuhr dann fort: »Joe hat nie auf meine Briefe reagiert, aber um ehrlich zu sein, ich habe die Zeit auch gebraucht. Aber als ich dann wirklich so weit war, rief Lizzie mich an und sagte, Joe sei ertrunken. Ich wollte Annie und Zach, mehr als alles andere auf dieser Welt – so sehr, dass ich mich weigerte zu sehen, was das Beste für sie war. Es heißt ja immer, dass bei einem Sorgerechtsstreit die Kinder am meisten leiden. Und jetzt zahlt Zach den höchsten Preis.«
»Und Annie …«
»Ja. Aber Sie haben, was Sie brauchen. Zach ist schwer verletzt, und Sie haben den Beweis, dass ich eine schlechte Mutter bin.«
»Paige. Wir waren beide dabei. Wir beide sind daran beteiligt.«
Sie legte den Kopf zur Seite, die Augenbraue hochgezogen, als versuche sie herauszufinden, ob ich das auch wirklich so meinte. Ein Krankenpfleger öffnete die Tür, ließ erneut die Geräusche vom Flur herein, und schloss sie wieder, ohne hereinzukommen. Ich überlegte zu schweigen, ihr Geheimnis für mich zu behalten. Doch ich hatte genug von Geheimnissen.
»Als Sie bei ihm Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht haben«, zwang ich mich zu sagen, »habe ich Ihren Rücken gesehen. Die Narben.« Stille. »Ihre Mutter … war … psychotisch?«
Paige seufzte lang und tief. »Erst nach meiner Geburt. Ich war ihr erstes und
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