Die andere Seite des Glücks
1. Kapitel
Man wird als glücklicher Mensch geboren, nicht dazu gemacht. Das habe ich neulich in einer Studie gelesen. Glück, hieß es darin, ist nichts weiter als Genetik – ein fröhliches Gen wird fröhlich weitervererbt, von einer lächelnden Generation zur nächsten. Ich kenne das Leben gut genug, um die alten Redensarten, dass man Glück nicht kaufen oder dass ein Mensch einen anderen nicht glücklich machen kann, zu verstehen. Und doch halte ich nichts von der Theorie, dass das persönliche Glück nur so groß sein kann wie der eigene Genpool.
Drei Jahre lang schwelgte ich im Glück.
Meine Seligkeit war augenfällig und oft schrill. Doch manchmal auch zart und leise – Zachs milchiger Atem an meinem Hals, Annies seidiges Haar beim Flechten zwischen meinen Fingern oder Joe, der in der Dusche einen alten Crowded-House-Song trällerte, während ich mir die Zähne putzte. Der beschlagene Spiegel trübte meine Sicht, verschleierte mein Spiegelbild, glättete meine Falten wie ein unscharfes Foto. Doch selbst die hatten mich nicht gestört. Nur wer nicht lächelt, bekommt keine Krähenfüße. Und ich lächelte viel.
Aber jetzt, Jahre danach, weiß ich noch etwas anderes: Auch das größte Glück kann nicht so rein, so tief oder so blind sein.
In den frühen Morgenstunden jenes ersten Sommertages zog Joe mir die Bettdecke vom Kopf und küsste mich auf die Stirn. Ich schlug ein Auge auf. Er hatte sein graues Sweatshirt an, die Kameratasche über der Schulter, und flüsterte mit zahnpasta- und kaffeegeschwängertem Atem, dass er erst nach Bodega fahre und danach den Laden aufmache. Mit dem Finger zeichnete er an der Stelle meines Armes die Sommersprossen nach, wo sie seinen Namen buchstabierten, wie er gern behauptete. Und dass es so viele seien, dass er nicht nur die Buchstaben für Joe sehen könne, sondern seinen vollen Namen: Joseph Anthony Capozzi jr. – alle auf meinem Arm. An diesem Morgen fügte er noch hinzu: »Wow, und
junior
ist sogar ausgeschrieben.« Er zog mir die Bettdecke wieder über den Kopf. »Du bist ein Phänomen.«
»Und du bist ein Klugscheißer«, sagte ich, schon halb wieder eingedöst. Aber mit einem Lächeln im Gesicht. Wir hatten eine gute Nacht gehabt. Er flüsterte noch, dass er mir eine Nachricht hingelegt habe, und ich hörte ihn aus der Tür gehen, die Verandastufen hinunter. Dann ging die Autotür knarrend auf, der Motor wurde laut und lauter und wieder leiser, verklang langsam. Und schon war er weg.
Später an diesem Morgen kletterten die Kinder kichernd zu mir ins Bett. Zach hob das sonnengesprenkelte Laken hoch und hielt es wie ein Segel über seinen Kopf. Annie ernannte sich wie immer selbst zum Kapitän. Noch vor dem Frühstück brachen wir in fremde Gewässer auf, um uns herum unsichtbare, glitschige Wesen unter der glatten Oberfläche, Ziel unbekannt.
Aneinandergeklammert lagen wir auf dem alten, durchgelegenen Boxspringbett, hatten die alles verändernde Nachricht noch nicht gehört. Wir spielten Schiff.
Die Kinder verkündeten, dass wir einen brenzligen Morgen auf See vor uns hatten, doch ich brauchte einen Kaffee, und zwar dringend. Ich setzte mich auf und warf ihnen über das Segel hinweg einen kurzen Blick zu. Ihr goldblondes Haar war noch vom Schlaf zerzaust. »Ich rudere zur Kücheninsel und besorge Vorräte.«
»Nicht wenn so große Gefahr lauert«, warnte Annie.
Lauert?
, dachte ich. Hatte ich dieses Wort mit sechs überhaupt schon gekannt? Annie schoss hoch auf die Füße, die Hände in die Taille gestemmt, und balancierte auf der wackligen Matratze. »Wir könnten dich verlieren.«
Ich stand auf, froh, vor dem Einschlafen letzte Nacht meine Unterwäsche und Joes T-Shirt wieder angezogen zu haben. »Aber wie sollen wir denn ohne Plätzchen im Bauch mit den Piraten fertig werden?«
Die beiden sahen sich an, in den Augen die unausgesprochene Frage: Vor dem Frühstück? Hat sie den Verstand verloren?
Plätzchen vor dem Frühstück … warum denn nicht? Ich war ein bisschen in Feierlaune, auch wegen des ersten nebelfreien Morgens seit Wochen. Das ganze Haus erstrahlte mit der Rückkehr der verloren geglaubten Sonne, und die Angst, die mich die ganze Zeit bedrückt hatte, war gewichen. Ich nahm das Wasserglas und den Zettel, den Joe darunter gelegt hatte. Die Worte waren vom feuchten Glasabdruck leicht verwischt:
Ella Bella, fahre zur Küste, um alles im Bild festzuhalten, und mache dann den Laden auf. Letzte Nacht war wunderbar. Küsse für A & Z. Komm
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