Die andere Seite des Glücks
doch später vorbei, wenn
… aber seine letzten Worte verschwammen in Tintenflecken.
Auch mir hatte die Nacht gefallen. Nachdem die Kinder im Bett waren, hatten wir noch lange in der Küche gestanden und geredet, an die Unterschränke gelehnt und er wie stets mit den Händen in den Taschen. Wir hatten uns an die ungefährlichen Themen gehalten: Annie und Zach, das für Sonntag geplante Picknick sowie abstrusen Stadtklatsch, den er im Laden gehört hatte – aber kein Wort über den Laden selbst. Wegen einer Bemerkung von mir hatte er lachend den Kopf zurückgeworfen. Was hatte ich gesagt? Ich erinnerte mich nicht mehr.
Tags zuvor hatten wir gestritten. Neunundfünfzig Jahre nach der Gründung von Capozzi’s Market ging es mit dem Laden bergab. Ich wollte, dass Joe es seinem Vater sagte. Joe wollte weiter so tun, als wäre alles in Ordnung. Er konnte sich die Wahrheit kaum selbst eingestehen, geschweige denn seinem Vater von der schlechten Geschäftslage erzählen. Dann, in einem unbedachten Moment, hatte er etwas von einer überfälligen Rechnung gesagt und wie langsam die Inventur voranging, woraufhin ich ausflippte und er sofort zumachte – ein Muster, dem wir seit Monaten verfallen waren. Joe hatte sich vom Schrank abgestoßen, war zu mir gekommen, hatte meine Schultern umfasst und gesagt: »Wir müssen einen Weg finden, über die schwierigen Dinge zu reden.« Ich nickte. Wir waren uns einig, dass es bis vor kurzem kaum schwierige Dinge zu bereden gegeben hatte.
Ich zählte uns zu den Glücklichen. »Annie, Zach. Wir …« Anstatt in dem Moment das heikle Thema anzugehen, hatte ich ihn geküsst und ins Schlafzimmer geführt.
Ich tat, als ruderte ich durch den engen Flur, machte einen großen Schritt über Zachs Brontosaurus und ein halbfertiges Lego-Schloss hinweg, bis ich außer Sichtweite war. In der Küche flocht ich mein unbändiges rotes Haar im Nacken zu einem Zopf. Unser Haus war ein bisschen wie meine Haare – viel Farbe und Durcheinander. Wir hatten die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer herausgerissen, so dass ich von hier aus die deckenhohen Regale sehen konnte, bis obenhin vollgestopft mit Büchern und Pflanzen und diversen Kunstprojekten – unter anderem einem gelb und lila angemalten Eisstiel und einer schiefen Tonvase, auf der mit Makkaroni
Herzlichen Glückwunsch zum Muttertag
stand. Das M war schon lange abgefallen, aber die Vertiefung noch gut zu sehen. An den wenigen freien Stellen ohne Einbauten oder Fenster hingen patchworkartig Joes gerahmte Schwarzweißfotografien. Eine große Terrassentür führte auf die vordere Veranda und unser Grundstück. Das alte Glas schützte nur wenig vor Kälte, aber wir konnten uns einfach nicht davon trennen – die welligen Scheiben gefielen uns. Es war, als würde man durch einen Wasservorhang auf die Hortensien rund um die Veranda blicken, auf das Lavendelfeld, das bald abgeerntet werden musste, den Hühnerstall, die Brombeerbüsche und die alte, windschiefe Scheune. Die stammte noch aus der Zeit, bevor Großvater Sergio das Land in den dreißiger Jahren gekauft hatte. Und nicht zu vergessen der Gemüsegarten gegenüber der Wiese mit den Redwoods und Eichen, unser Stolz und Glück. Ungefähr einen Morgen groß, lag er über der Hochwassergrenze und größtenteils in der Sonne, und von einer Stelle aus konnte man sogar den Fluss sehen.
Joe und ich gärtnerten gern, und das war nicht zu übersehen. Aber weder wir noch die Kinder schafften es, im Haus Ordnung zu halten. Das störte mich jedoch nicht sonderlich. In meinem früheren Haus – und Leben – war ich extrem ordentlich gewesen, aber auch ernsthaft und leer, weshalb ich die Unordnung als notwendige Begleiterscheinung eines erfüllten Lebens betrachtete.
Ich nahm die Milch aus dem Kühlschrank und heftete Joes Nachricht mit einem Magnet an die Tür. Warum ich sie aufhob, weiß ich nicht; wahrscheinlich wollte ich die Erinnerung an unsere liebevolle Versöhnung der letzten Nacht festhalten, das
Ella Bella …
Ich heiße Ella Beene, was mir, wie man sich leicht vorstellen kann, jede Menge Spitznamen eingebracht hat. Doch der von Joe hat mir sofort am besten gefallen. Ich bin keine Schönheit – zwar auch nicht hässlich, aber nicht annähernd so, wie ich aussehen würde, wenn ich dabei ein Wörtchen hätte mitreden können. Ich habe helle Haut und Sommersprossen, ein passables Gesicht – braune Augen, recht hübsche Lippen –, das besser aussieht, wenn ich daran denke, mich zu schminken,
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