Die Angune (German Edition)
wurde von einer uralten Esche eingenommen. Der stattliche Baum hatte einen Stammdurchmesser von vielen Schritten, und war so hoch, dass bei schlechtem Wetter die Baumkrone in den Wolken verschwand. Eigenartigerweise entsprang am Fuß der Esche eine glitzernde Quelle, die in einem rund um den Baum laufenden, ringförmigen Becken aus rosafarbenem Granit gefasst worden war. Am Auslauf des Beckens entstand ein Bach, der sich spiralförmig rund um den Hügel hinunter schlängelte und auf seinem Weg einen Hain aus jungen, schlanken Eschen bewässerte.
Als Calaele'en die breite Allee zum Sommerpalast des Aran hochging, erkannte er schon von weitem den ersten Stein des Anstoßes.
Der junge König hatte sich gleich nach der Thronbesteigung eine Statue errichten lassen. Die fein herausgearbeitete und sehr realistisch wirkende schneeweiße Marmorskulptur zeigte den splitternackten, muskulösen König wie er breitbeinig und entspannt in der Ecke einer kunstvoll heraus gemeißelten Marmorbank herumhing. Es hätte eine künstlerisch wertvolle Arbeit der Zwerge sein können, wenn der Aran nicht auf der Darstellung eines Phallus bestanden hätte. Niemand konnte sagen, ob es bloß jugendliche Angeberei war, oder doch absichtliche Provokation. Allerdings ließ die Reaktion des Volkes nicht lange auf sich warten. Man hatte schnell eine Erklärung für die Sitzposition der Figur gefunden: der Aran konnte seine Beine nicht schließen weil er sein Gehirn quetschen würde. Allerdings war es gefährlich, allzu laut über diesen Witz zu lachen. Niemand konnte sagen ob er nicht von einem Spion des Königs verraten wurde.
Calaele'en ging um die Skulptur herum, und erreichte den dreistöckigen, halbmondförmig gebauten Sommerpalast des Arans. Die schwer gepanzerten Schwertkrieger der königlichen Garde teilten ihm mit, dass der König mit seinem Hof im Ga rten weilte. Ein Page begleitete den Meister der Schriften zur beindruckenden und alles überragenden Esche.
Zuerst kam eine breite Wiese aus unkrautfreiem und kur zgeschorenem, grünen Gras. Dann folgte ein Fläche aus weißen Platten, der sich ein 10 Schritt breites und knöcheltiefes Wasserbecken aus rosa Granit anschloss. Schlussendlich kam ein innerer Platz aus weißen Steinplatten der den riesigen Stamm der Esche umgab.
Und dort hielten sich gut zwei Dutzend Weißelfen auf, von denen einige mit einem weißen Lendenschurz gekleidet waren. Alle anderen waren nackt wie Calaele'en zu seinem eigenen Leidwesen erkennen musste! Männer wie Frauen, oder besser gesagt, junge Männer und junge Frauen.
Und ihrer Mitte der Aran, der sich auf einer weißen Marmorbank lümmelte.
Calaele'en atmete tief durch und schaute leicht aufgebracht zu Boden. Sein Page deute wortlos an , ihm zu folgen, und so ging der alte Meister der Schriften Calaele'en Obra Barkarië in erhabener Haltung und mit ehrwürdigen Schritten weiter, um beim jungen Aran von Rinu'usala, Nanta'thren, Sohn von Niör aus dem gottgleichen Geschlecht Freyvanir, vorgelassen zu werden.
In der hellen, lichtdurchfluteten Umgebung der königlichen Gärten war die festlich schwarz gekleidete Gestalt des Meisters der Schriften nicht zu übersehen. Calaele'en hatte die kleine flache Brücke über das rosa Wasserbecken noch nicht gänzlich überquert, als der Aran ihn schon begrüßte.
»Da schaut her! Da kommt unser Meister der Schriften!«
Und die Augen aller Höflinge, männlich wie weiblich, ric hteten sich auf Calaele'en. Doch der alte Weißelf ließ sich nicht beirren. Er war dem Aran Ehrerbietung schuldig, und die würde er ihm bei seiner Ankunft auch erweisen - auf seine Art und Weise. Aber bis dahin würde sein Gang, passgenau zum Zeremoniell, Würde und Ausgeglichenheit ausstrahlen. Und das ganze barbusige Theater würde er mit erhabener Miene übersehen.
Vier, fünf Schritte vor dem Aran blieb er stehen. Umständlich und wackelig ließ er sich auf das rechte Knie nieder, und beugte das Haupt. Der ganze Bewegungsablauf war übertrieben. Wohl bereitete ihm das Kreuz einige Schwierigkeiten, aber so schlimm wie er schauspielerte, war es nun doch nicht.
An sich war es verboten, dass das Haupt des Vorgelassenen sich höher befand als das des Herrschers. Andererseits hatte Calaele'en klar gemacht, dass er nicht gedachte, auf dem Knie sitzen zu bleiben.
»Göttlicher Aran, ein alter und von Schmerzen geplagter Mann bittet um Nachsicht wenn er nicht in dieser Position bleiben kann!«, sagte Calaele'en mit von Schmerzen gepeinigten
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