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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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selben Zeit lebten wie er, daß sie die gleiche Luft atmeten, daß sie denselben Morgen sahen wie er, denselben Sonnenuntergang. Und gern hätte er es ihnen gesagt.
    So manche Minute hatte er spekuliert: War Marie die Frau, der er bestimmt gewesen war? Wäre er ihr auf alle Fälle begegnet? Hätten sie sich vielleicht auch erst zehn Jahre später treffen können? Und hätte es dasselbe Resultat ergeben? Existierte vielleicht irgendwo auf der Welt jemand, der ihm bestimmt gewesen war? Und hatte er diesen Menschen vielleicht einmal nur knapp versäumt? War mit ihm zusammen im Bus gestanden? Womöglich hatten sich ihre Blicke sogar gekreuzt, und dann hatten sie einander nie wieder gesehen? Hieß sie Tanja, lebte sie zusammen mit Paul, war sie unglücklich mit Paul, hatte sie Kinder mit Paul, überlegte sie, ob es jemand anderen gegeben hätte?
    Oder lebte in anderen Zeiten eine Frau, mit der er verbunden sein sollte? Hatte sie vielleicht schon gelebt, war Zeitgenossin von Haydn gewesen oder von Schönberg? Oder sollte sie erst geboren werden, und er war zu früh da? Er hatte nichts von all diesen Überlegungen ausgeschlossen. Im Grunde war es ihm weniger um die Antwort als um die Frage gegangen.
    Er holte tief Luft und stieg aus. Ging zur Haustür, wo er an der Gegensprechanlage die Namen der Bewohner las.
    T. Gane / L. Sadier
    P. Harvey
    R. M. Hall
    Rosy Labouche
    Peter Kaventmann
    F. Ibanez-Talaverá
    Hunter Stockton
    Oscar Kliuna-ai
    P. Malachias
    Das war der Name. Malachias. So hieß der Mann, der Maries Schwester geheiratet hatte. Der Küster.
    Noch einmal atmete Jonas tief durch, dann drückte er die Tür auf. Daran, sich eine Waffe zu suchen, dachte er nicht. Obwohl es dunkel war und das Licht im Treppenhaus nur trüb brannte, fühlte er keine Furcht. Was ihn bewegte, war halb Sehnsucht, halb Verzweiflung, jedoch nichts, was ihn hätte umkehren lassen, mochte er nun auch auf Unliebsames treffen.
    Die Wohnung lag im zweiten Stock. Er drückte die Klinke. Es war offen.
    Er schaltete Licht an. Das erste, worauf sein Blick fiel, waren ihre Schuhe. Im selben Moment erinnerte er sich, wie sie sie gemeinsam gekauft hatten, in einem Laden in der Judengasse. Er rieb sich die Augen.
    Als er wieder aufschaute, sah er ihre Jacke an der Garderobe hängen. Er griff danach. Strich über den Stoff. Vergrub das Gesicht darin, sog ihren Duft ein.
    »Hi«, sagte er tonlos.
    Er mußte an den Rest ihrer Kleider denken. An die, die in diesem Augenblick in der Brigittenauer Lände lagen. Wie weit entfernt sie waren. Tausende Kilometer.
    Es war eine geräumige Wohnung. Von der Küche gelangte er ins Wohnzimmer. Von dort in ein Schlafzimmer, das wohl Maries Schwester mit ihrem Mann gehört hatte. Der nächste Raum wurde offenkundig von einer älteren Frau bewohnt. Es war an verschiedenen Gegenständen zu merken, aber auch an der Ordnung und am Geruch.
    Das letzte Zimmer lag am Ende des Ganges. Ein Blick genügte ihm, um Gewißheit zu haben. Maries Koffer an der Wand. Ihre Kosmetiktasche auf der Kommode. Ihre Hausschuhe, die sie überallhin mitnahm, vor dem Bett. Darauf ihr Nachthemd. Ihre Jeans, ihre Bluse, ihr Schmuck, ihr Büstenhalter, ihr Parfüm. Ihr Mobiltelefon. Das er so oft angerufen hatte. Auf dessen Voice-box er Nachrichten gesprochen hatte. Der Akku des Geräts war leer. Und er wußte Maries PIN -Code nicht.
    Er warf den Koffer aufs Bett, riß die Schränke auf, packte alles ein, was er zu fassen bekam. Auf Bügelfalten achtete er dabei ebensowenig wie darauf, ob die Schuhsohlen die Hemden verschmutzten.
    Er machte einen Rundgang. Fand nichts mehr. Kniete sich auf den Koffer, zog den Reißverschluß zu.
    Er lag auf ihrem Bett, sein Kopf auf ihrem Kissen. Ihn wärmte ihre Decke. Ihr Duft war um ihn. Er fand es merkwürdig, daß sie hier viel gegenwärtiger war als in der Wohnung, in der sie zusammen gelebt hatten. Womöglich lag es daran, daß es sie hier zuletzt gegeben hatte.
    Er hörte ein Geräusch. Er wußte nicht, woher es drang. Er fürchtete sich nicht.
    Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, und so konnte er nicht sagen, wie lange er gelegen hatte. Es war nach Mittag. Er trug den Koffer hinaus ins Auto, kehrte ein letztes Mal zurück, suchte nach etwas, das er übersehen hatte. Im Papierkorb fand er eine handgeschriebene Einkaufsliste. Es war Maries Schrift. Er strich den Zettel glatt und steckte ihn ein.
    Er fuhr, gleichmäßig, gleichgültig. Ab und zu drehte er sich um, aber nicht aus Sorge, jemand könnte hinter ihm

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