Die Arbeit der Nacht
Grunde jeder Mensch, jeder wollte etwas Unwiderrufliches tun. Deshalb verspürte man den Impuls, einen unschuldigen Mann vor die einfahrende U-Bahn zu stoßen. Deshalb malte man sich aus, mit dem Auto bei 180 abrupt zur Seite zu lenken. Deshalb stellte man sich beim Besuch bei Freunden vor, ihren Hund aus dem sechsten Stock zu werfen. Man mußte dazu kein Mörder sein und kein Selbstmörder. Nur ein Mensch.
Und jetzt war es ihm passiert. Etwas, das das Leben in ein Davor und Danach teilte. Dieser Rollstuhl bedeutete in gewisser Weise Schlimmeres als das Aufwachen in einer menschenleeren Welt. Denn er betraf ihn unmittelbar. Seinen Körper, seine letzte Grenze.
Er blickte hinaus aufs Meer. Mit gleichbleibendem, sattem Klatschen schlugen die Wellen tief unter ihm gegen das Schiff. Der Wind trug das Geräusch herauf, fuhr knatternd in eine Plane, ließ in der Nähe Geschirr erzittern.
»Ja.«
Er mußte sich räuspern.
»Ja, ja, so ist es.«
Konnte ein Querschnittsgelähmter wirklich die Zehen bewegen?
Spürte er es wirklich, wenn er sich aufs Bein schlug?
Er riß an der Decke. Sie war unter ihm festgeklemmt, und es bedurfte einiger Kraftanstrengung, um sie zu lösen. Doch dann zog er sie mit einem Ruck von sich.
Und sah, daß seine Beine mit Isolierband streng an den Stuhl gefesselt waren.
Unter den Füßen schimmerte etwas hervor. Es war eine abgebrochene Messerklinge. Unter schmerzhaften Verrenkungen gelang es ihm, sich hinabzubeugen und sie hervorzuziehen. Er schnitt die Fesseln auf. Das Blut schoß ihm mit einer Heftigkeit in die Beine, daß er aufschrie.
Einige Minuten dauerte es, bis sich seine Glieder weniger taub anfühlten. Er stand auf. Er konnte sich halten. Das linke Bein mußte er nachziehen, es war eingeschlafen. Er humpelte in die Kabine.
Eine so prachtvolle Suite hatte er noch nie gesehen. In keinem Hotel und schon gar nicht auf einem Schiff. Die Einrichtung bestand aus Edelholz und Leder. Mit Lampen war nicht gespart worden. Eine Sitzecke lud ein, an der Wand hing ein breiter Fernseher mit Plasmabildschirm, eine elegante Wendeltreppe führte in ein Obergeschoß.
Auf dem Sekretär lag Briefpapier. Jonas las den Namen des Schiffes: Queen Mary 2 .
Der Hafen von Southampton war der größte, den Jonas je gesehen hatte. Die Dimension hatte den Vorteil, daß er sehr schnell ein Auto gefunden hatte, bei dem der Schlüssel steckte.
Langsam fuhr er durch die verlassenen Straßen. Er hielt nach einem Bookstore Ausschau. Einmal versperrte ein Lastwagen den Weg. Jonas wagte nicht auszusteigen, um das Fahrzeug zu untersuchen. In dieser Stadt hatte er das Gefühl, sich in einem Minenfeld zu bewegen. Nichts wirkte gefährlicher oder rätselhafter als in den anderen leeren Städten. Doch hier, in einer englischen Küstenstadt, empfand er es noch unangenehmer, durch die Starre zu laufen, weit unangenehmer als in Wien, wo er wenigstens die Straßen kannte.
Ein Bookstore. Jonas stieg aus. Er nahm einen Sack voll Weinflaschen auf, der auf dem Bürgersteig stand. Mit den Flaschen drosch er blindlings gegen Schaufenster. Er zog die Schultern ein, sprang schwerfällig umher und gab sich den Anschein eines betrunkenen Hooligans.
Die Tür der Buchhandlung war offen. Ein geräumiges Geschäft. Auf zwei Stockwerken standen Regale, die bis zur Decke reichten. Leitern aus Aluminium waren daran gelehnt. Es roch nach Papier, nach Büchern. Die Luft war abgestanden.
Die Fachbuchabteilung fand er nach einer Viertelstunde, ein Arzneimittellexikon nach weiteren zehn Minuten. Damit begann der schwerste Teil der Aufgabe. Er wußte nicht einmal, wie das, was er suchte, auf deutsch hieß. Ein Mittel gegen Schlafkrankheit, so etwas mußte es geben. Schlafkrankheit wurde auch Narkolepsie genannt. Also Narcolepsy. Aber unter Narcolepsy fand er nichts. Narcolon, Narcolute, Narcolyte waren die ersten Begriffe auf der betreffenden Seite.
Wesen und Wirkung dieser Arzneimittel wurden ausführlich erklärt, und jeder Erläuterung mußte Jonas Zeit und Konzentration schenken, bis er sicher sein konnte, daß ihm dieses Mittel nicht weiterhelfen würde. Es handelte sich nicht um Schlafhemmer, sondern um Schlafmittel. Aber wie würde eine Arznei gegen Schlafkrankheit genannt? Antinarco? Narcostop? Er biß sich auf die Lippen und blätterte weiter.
Obwohl es erst Vormittag war, spürte er bereits die Müdigkeit heraufkriechen. Dies trieb ihn an. Was er gerade tat, hätte er schon am Vortag tun müssen oder am Tag zuvor. Wenn er die
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