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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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nicht in Ordnung. Er setzte sich ins Auto und zog die Tür zu. Von innen beobachtete er, wie sich die Zahlentrommel an der Anzeige drehte.
    Etwas kam ihm seltsam vor.
    Er hatte das Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, was natürlich nicht stimmte. Aber er konnte sich nicht von dem Eindruck freimachen, diese kleine Tankstelle mit dem Flachdach aus Beton und dem trichterförmigen Schornstein schon einmal gesehen zu haben – als sie noch woanders stand. Es war, als habe man einen Ort, der ihm bekannt war, ausgerissen und hierherverfrachtet.
    Er blickte durch die Scheiben nach draußen. Nichts. Soweit er sehen konnte, war nichts und niemand in der Nähe. Seit sechs Wochen war hier niemand gewesen.
    Eine Falle. Diese unglaublich langsame Tankanlage, eine Falle. Für ihn. Er durfte nicht mehr aussteigen. Er mußte hier weg.
    Er kurbelte das hintere Seitenfenster herunter, drehte sich ruckartig um. Niemand war hinter ihm. Er lehnte sich aus dem Fenster, zuckte zurück. Keine Hand, die ins Innere griff. Er steckte den Kopf wieder hinaus. Fuhr herum. Niemand hinter ihm. Kein fremdes Wesen, kein Wolfsvieh. Obwohl er es sah . In den Sekundenbruchteilen, die er aus dem Fenster blickte, saß etwas hinter ihm. Saß etwas hinter ihm und betrachtete seinen Rücken .
    Er langte aus dem Fenster, löste die Klemme des Zapfhahns, ließ diesen auf den Boden fallen. Den Tankdeckel drückte er zu, ohne den Verschluß zuzuschrauben. Er kurbelte das Fenster hinauf, kletterte auf den Fahrersitz, gab Gas.
    Er blickte in den Rückspiegel.
    Niemand.
    Er schaltete die Innenbeleuchtung ein, wandte sich um.
    Fleckiger Bezug. Müll. Eine CD.
    Er schaltete das Licht ab. Blickte in den Rückspiegel.
    Wischte sich die Stirn.
    Horchte.
    Acht Uhr morgens. Smalltown.
    Die Sonne stand am Himmel, aber Jonas hatte das Gefühl, es sei eine Filmsonne, eine Attrappe. Als sei das Firmament eine bemalte Plane, wie in einem Filmstudio. Er spürte die Sonnenstrahlen nicht. Er spürte keinen Wind.
    Er betrachtete das Haus, die Hausnummer, den Zaun. Auf einer Plakatwand warb eine junge Frau für ein Produkt, von dem er noch nie gehört hatte.
    Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, schluckte er eine weitere Tablette. Mit einemmal fragte er sich, wie er hierhergekommen war. Nicht, daß er sich an die Fahrt nicht erinnern konnte. Doch alles war so unwirklich geworden. Nichts erschien real, die Fahrt nicht, das Auto nicht, seine Umgebung nicht. Diese Tabletten. Stark.
    Er legte die Hände auf das Lenkrad. Du. Das bist du. Jetzt und hier.
    Smalltown. Hier lebten Maries Schwester, die einen Küster geheiratet hatte, und ihre Mutter, die nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer jüngeren Tochter gezogen war. Hier hatte Marie zweimal im Jahr einen Kurzurlaub verbracht. Er war nie mitgekommen. Hatte Arbeit vorgeschützt. In Wahrheit fühlte er seit jeher Abneigung dagegen, die Eltern seiner Freundinnen kennenzulernen.
    Das war das Haus. Die Nummer stimmte, und die Beschreibung entsprach jener, die ihm Marie geliefert hatte. Ein zweistöckiger Backsteinbau in einem Vorort.
    Mit einem Fußtritt öffnete Jonas die Wagentür, stieg jedoch nicht aus. Er musterte die Frau auf dem Plakat. Sie erinnerte ihn an eine Schauspielerin, die er sehr verehrt hatte. Ihretwegen hatte er in der Zeit, als er noch keinen Videorekorder besessen hatte, Termine verschoben und Verabredungen abgesagt. Er war stets von einem Gefühl der Dankbarkeit erfüllt gewesen, ihr Zeitgenosse sein zu dürfen.
    Oft hatte er sich vorgestellt, was gewesen wäre, wenn er in einer anderen Zeit geboren worden wäre, mit anderen Zeitgenossen. Im 15. Jahrhundert, oder um das Jahr 400, oder tausend Jahre vor Christus. In Afrika, oder in Asien. Ob er derselbe gewesen wäre.
    Es war Zufall, mit wem zusammen man lebte. Der Kellner im Lokal, der Kohlenhändler, die Lehrerin, der Autoverkäufer, die Schwiegertochter. Sie waren die Zeitgenossen, die man hatte. Die Sängerin, der Präsident, der Wissenschaftler, der Vorstandsvorsitzende, das waren die Menschen, mit denen man zu seiner Zeit den Planeten teilte. Die Menschen in hundert Jahren würden anders sein und andere Zeitgenossen haben. Im Grunde waren Zeitgenossen, selbst wenn sie auf einem anderen Erdteil lebten, etwas geradezu Privates. Genausogut hätten sie vor fünfhundert Jahren leben können oder erst in fünfhundert Jahren. Aber sie taten es jetzt, mit ihm. So hatte er es empfunden, und manchen Zeitgenossen war er schlicht dankbar dafür gewesen, daß sie zur

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