Die Arbeit der Nacht
sitzen, sondern um sich zu vergewissern, daß der Koffer wirklich dalag. Er hielt, um zu essen und zu trinken, und stapelte auf dem Beifahrersitz Mineralwasserflaschen. Seit dem Morgen plagte ihn ein kaum stillbarer Durst, vermutlich eine weitere Nebenwirkung der Tabletten. Als er urinierte, hatte der Strahl eine rötliche Farbe. Kopfschüttelnd drückte Jonas noch eine Tablette aus der Verpackung. Seine Schultern fühlten sich taub an.
Bald wußte er nicht mehr, wie lange er schon fuhr. Entfernungen schienen relativ zu sein. Was auf den Hinweistafeln stand, hatte keine Bedeutung. Gerade war er an Lancaster vorbeigekommen, und kurz darauf war die Ausfahrt nach Coventry gefolgt. Dagegen schien er für die Strecke zwischen Northampton und Luton Stunden zu benötigen. Er blickte auf seine Füße, die die Pedale traten.
Als er jung war, hatten ihn Selbstmorde von Stars aus Musik und Film vor Rätsel gestellt. Wieso tötete sich jemand, der alles hatte? Wieso brachten sich Menschen um, die Millionen zur Bank trugen, die mit anderen Berühmtheiten Cocktailpartys feierten, die mit den bekanntesten und begehrtesten Menschen des Planeten ins Bett gingen? Weil sie einsam waren, lautete die Antwort, einsam und unglücklich. Wie dumm, hatte er gedacht, deswegen brachte man sich nicht um. Diese Sängerin damals, sie hätte sich nicht die Adern aufschneiden, sondern ihn anrufen sollen. Er wäre ihr ein guter Freund geworden. Er hätte ihr zugehört, er hätte sie getröstet, er wäre mit ihr in Urlaub geflogen. Sie hätte einen Freund gehabt, den sie bei ihren Starkollegen nicht hätte finden können. Er wäre über diesen Dingen gestanden, er hätte ihr den Kopf zurechtgerückt, bei ihm hätte sie Boden unter den Füßen gefühlt.
So hatte er gedacht. Erst später hatte er begriffen, warum sich diese Menschen töteten. Nämlich aus demselben Grund wie die Unberühmten und Armen. Sie konnten sich an sich selbst nicht festhalten. Sie ertrugen es nicht, mit sich allein zu sein, und hatten erkannt, daß das Zusammensein mit anderen das Problem nur leiser drehte, in den Hintergrund rückte, nicht aber löste. Vierundzwanzig Stunden am Tag man selbst zu sein, nie ein anderer, das war in manchen Fällen eine Gnade, in anderen ein Urteil.
In Sevenoaks südlich von London tauschte er den Wagen gegen einen Motorroller ein. Dieser bot genug Platz, den Koffer zwischen Beine und Lenker zu klemmen. Ob er auf diese Weise fünfzig Kilometer durchhielt, war eine andere Frage. Aber er brauchte ein Zweirad, er hatte keine Lust, zu Fuß durch den Tunnel zu gehen. Und noch unterstützte das Licht der Abendsonne seine Suche. In der Dunkelheit durch Dover zu fahren hatte er sich ersparen wollen.
Während er auf dem Roller mit achtzig, neunzig Stundenkilometern über die Autobahn fuhr, versuchte er alle paar Minuten, eine bequemere Haltung für die Beine zu finden. Er zog sie zur Brust und stellte die Füße vorsichtig auf den Koffer, er legte die Schenkel über den Koffer und ließ die Füße baumeln, er schlug sogar ein Bein unter. Eine entspannte Haltung fand er nicht. Als es dunkel wurde, zwängte er die Beine zwischen Koffer und Sitz. Dabei beließ er es.
Es war, als ob der Fahrtwind seinen Verstand erfrischen würde. Bald schon fühlte er sich klarer, hatte er nicht mehr das Gefühl, sich unter Wasser zu bewegen. Er konnte darüber nachdenken, was ihm bevorstand. Erst durch den Tunnel, dann durch Frankreich, durch Deutschland. Die Kameras einsammeln. All dies mit Tabletten. Mit brennender Zündschnur.
Und er würde nie mehr schlafen.
Kurz vor dem Ziel erkannte er trotz der Finsternis ein Getreidesilo wieder. Von hier aus waren es zum Tunnelportal knapp zwei Kilometer. Bog er aber nach rechts ab, gelangte er zu jener Wiese, auf der er übernachtet hatte.
Er wußte nicht, warum er es tat. Etwas in ihm ließ ihn abbiegen. Automatisch spannte er alle Muskeln an, als der Lichtkegel des Rollers vor ihm über die Wiese strich. Der Wind wurde stärker. Die Stille schien natürlicher zu werden, und genau das empfand Jonas als unangenehm. Dennoch kehrte er nicht um. Etwas zog ihn an. Zugleich wußte er, daß er unvernünftig handelte, daß es keinen Grund für diese Eskapade gab.
Vor dem Zelt stellte er den Motor ab. Das Licht ließ er brennen. Er stieg ab.
Das Motorrad mit den aufgestochenen Reifen. Das Vorzelt. Matten, die herumlagen, eine Luftmatratze ohne Luft, eine zerrissene Straßenkarte. Zwei Müllsäcke. Und seine Kleidung, die er
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