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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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sie dem Zentrum kamen, desto mehr Menschen begegneten ihnen, aber niemand beachtete Chris und Mischa: ein paar Jugendliche, einer davon betrunken oder krank, ohne Bedeutung.
    Wo Chris sich auf sie stützte, fühlte Mischa ihre Kleidung feuchtwarm und klamm auf der Haut. Aber dann merkte sie, daß ihn fröstelte, und als sie die Hand an seine Seite legte, spürte sie, daß alle Wärme von ihrem eigenen Körper kam. Chris war durch und durch ausgekühlt, seine Energie verausgabt durch Erschöpfung, weil er nicht schlafen konnte, und durch Vergeßlichkeit, weil er nicht träumen konnte.
    Er glitt auf dem steinigen Boden aus, strauchelte und fiel. Mischa wurde mitgezogen und konnte ihn nicht halten. Sie fiel neben ihm auf die Knie und versuchte seinen Oberkörper aufzurichten. »Steh auf, Chris! Komm schon!«
    »Laß mich in Ruhe!«
    Sie konnte ihn nicht tragen, und er konnte nicht stehen. »Aus dem Weg!«
    Mischa blickte erschrocken auf. Ein Bergmann stand schwankend über ihnen. Mischa konnte seine Alkoholfahne riechen, aber seine Annäherung hatte sie überrascht. Der Anblick der beiden, die ihm den Weg versperrten, brachte ihn augenblicklich in Rage. Vielleicht hielt er sie für ein Liebespaar, das sich hier auf einem öffentlichen Weg niedergelassen hatte. Ohne abzuwarten, daß sie seiner Aufforderung Folge leisteten, packte er Mischa bei der Schulter und stieß sie rücklings in den Sand. Er trug schwere Ringe an allen Fingern seiner dicken Hände. Nun wandte er sich Chris zu, der quer über dem Weg lag, und versetzte ihm einen bösartigen Fußtritt. Der Stiefel traf Chris gegen die unteren Rippen, hob ihn hoch und warf ihn gegen die Wand zurück, wo er in sich zusammensank.
    Der Mann stand zornig grunzend vor ihm, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen, und öffnete und schloß die Finger. Ehe er Chris hochreißen und vollends zusammenschlagen konnte, sprang Mischa dazwischen; er sah sich einem Jähzorn gegenüber, den nichts mehr vom Irrationalen trennte. Ein Druck, und die spitze Klinge ihres Federmessers sprang heraus. »Zurück!« zischte Mischa und stieß zu. Die Spitze des Messers berührte den Bauch des Bergmannes. Er sprang unwillkürlich zurück, und auf seinem Hemd zeigte sich ein roter Fleck. Mischa folgte ihm einen Schritt, und er setzte den Rückzug fort. Sein
    Blick fiel auf die vom angetrockneten Blut bräunlich-fleckige Klinge, an deren scharfer Spitze ein helles Rubinrot glänzte. Er trat einen weiteren Schritt zurück, und als sie nicht folgte, machte er kehrt und entfernte sich eilig.
    Mischa ließ die Klinge in den Messergriff zurückgleiten, ohne sie abzuwischen. Die Spuren früherer Treffen, bei denen sie früher vom Blut gekostet hatte, hatten für Mischa die magische Bedeutung von Siegeszeichen; sie durften nicht ausgelöscht werden. Der Bergmann, so dachte sie mit grimmiger Befriedigung, hätte besser getan, die Sicherheit seines reichen Hauses und der Maschinen, die für ihn und seine Familie die Arbeit taten, nicht zu verlassen.
    Chris lag zusammengekrümmt am Boden, besinnungslos oder vor Erschöpfung außerstande, den Ereignissen zu folgen. Er regte sich nicht, als sie ihn schüttelte, obwohl seine Augen offen waren. Sie stützte ihn, bettete seinen Kopf in ihren rechten Arm und versetzte ihm mehrere leichte Ohrfeigen, um ihn zur Besinnung zu bringen. Sie tat es, bis er die Augen schloß und wieder öffnete. Das Gefühl einer überwältigenden Niedergeschlagenheit ging von ihnen aus und griff auf Mischa über. Sie seufzte, strich ihm das Haar aus der Stirn und nickte ihm aufmunternd zu.
    »Laß uns gehen, Chris«, sagte sie leise, und er ließ sich aufhelfen und schleppte sich an ihrer Seite weiter.
    Die Umgebung wurde heller, wärmer, belebter und geräuschvoller. Mischa führte Chris und achtete darauf, daß Chris immer eine Wand neben sich hatte, damit sie zwischen ihm und den anderen Leuten sein konnte. Die wenigen Passanten, die auf sie aufmerksam wurden, ignorierte sie. Niemand erbot sich, ihr zu helfen, und sie wollte keine Hilfe.
    »Warum warst du dort?« fragte sie.
    »Du weißt, warum.« Sie gab sich keine Mühe, ihre Stimme von der Bitterkeit freizuhalten, die in ihr war. »Ich gehe immer in den Untergrund, nachdem ich zu Haus einen Besuch machen mußte.« Sie brauchte die Einsamkeit, die Stille und die versteinerte, zerbrechliche Schönheit der tieferen Höhlen ebenso wie ihre Gefahr, vielleicht um ihren Glauben an sich selbst zu erneuern. Die hohlen Echos ihrer

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