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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Untergrund umhergewandert sein, denn er hatte offenbar alle Phasen durchgemacht, von Scheinaktivität und Euphorie über Halluzination und Paranoia, und nun das letzte Stadium der Erschöpfung vor dem Koma erreicht.
    »Chris ?«
    »Hm?« Seine durchscheinenden Lider zuckten ein wenig.
    »Hast du hier irgendein Schlafmittel?«
    »Ich will keins.« Seine Stimme war nur ein Flüstern, aber das Winseln war schon wieder darin.
    »Du hast damit angefangen«, sagte sie. »Du kannst jetzt nicht aufhören.«
    »Es hilft«, sagte er. Er hob die Hand, um zu der einen neugestalteten Wand zu zeigen, aber ein Zittern durchlief ihn, und der Arm fiel zurück. »Das machte ich, als ich anfing. Es war so gut ...«
    »Du warst vorher gut.«
    »Nicht so gut. Nicht gut genug ...«
    »Und das da?« Sie deutete mit einem Kopfnicken zu der ruinierten Wand, ohne hinzusehen. Chris antwortete nicht, wandte aber den Kopf zur Seite.
    Mischa zuckte die Achseln. Der veränderte Raum schien mit Farbfühlern nach ihr zu tasten; er war erfüllt von einer nervösen und zerstreuten Energie. Die beherrschte Kraft von Chris' früheren Arbeiten hatte sich hier in ihre rohen Bestandteile aufgelöst.
    »Du verlierst viel, wenn du schläfst«, sagte er. »Du hast Visionen, die das Beste von allem wären, was du jemals tun könntest, aber beim Aufwachen erinnerst du dich nicht mehr an sie. Dein ganzes Gehirn arbeitet daran, aber du vergißt es. Das passiert jetzt nicht mehr.«
    »Jetzt träumst du überhaupt nicht mehr«, ergänzte sie und bedauerte sofort die unnötige Grausamkeit.
    »Vielleicht hat es sich gelohnt«, sagte er trotzig.
    Mischa blickte umher, betrachtete die Wände des Raumes, wo sie hatte sitzen und sich vorstellen können, wie es sein würde, das Zentrum zu verlassen und frei zu sein. Davon war nichts geblieben. Nun konnte sie sich nur in sich selbst zurückziehen und hoffen, bald von diesem Ort zu entkommen. Sie wünschte, er wäre ihr gleichgültig. Dann könnte sie jetzt aufstehen und von ihm fortgehen und brauchte nie zurückkommen.
    Ohne den Tonfall zu verändern, sagte Chris: »Es ist in der Tasche.«
    Sie durchsuchte die Reisetasche und fand eine Röhre mit runden, transparenten Kapseln. Feine weiße Fasern im Inneren befanden sich in langsam wogender Bewegung. »Wie viele?«
    »Nur eine.«
    Sie konnte die Unwahrheit heraushören, schüttelte zwei in ihre Handfläche und brachte sie ihm. »Ich weiß, was los ist, Chris. Du bist nicht klar wie Gemmi, aber ich merke, was in dir vorgeht.« Sie wollte ihn bei den Schultern packen und schütteln und ihn anschreien: Zwei, du brauchst zwei Kapseln! Und du hast nie nach mir gesucht, hast mich nie helfen lassen.
    Seine Hand schloß sich um die Kapseln. In seinem abgemagerten Gesicht war Haß, weil sie nicht zulassen würde, daß er sich jetzt tötete, und weil er das nächstemal, allein mit sich selbst, nicht den Mut dazu haben mochte.
    Er schluckte die Kapseln und streckte sich aus, entspannte sich allmählich. Als sie schon meinte, er sei eingeschlafen, streckte er blindlings die Hand nach ihr aus. Auch seine Hand war nur noch Haut und Knochen, zurückgebildete Muskeln und scharfe, schmutzige Fingernägel. Sie hielt die Hand, bis ihr Griff erschlaffte und anzeigte, daß er schlief: einen traumlosen, notwendigen, gequälten Schlaf, den einzigen, den es für ihn noch gab. Sie spürte, wie dieses dumpf drückende Nichts über ihn kam. Zum tausendsten Mal wünschte sie, ihr Geist wäre unempfänglich für die Empfindungen und Gedanken anderer. Im Spektrum ihrer Andersartigkeit konnte Mischa ihre Schwester Gemmi am stärksten fühlen; ihre Schwester war nicht nur telepathisch auszumachen, sondern konnte sich aus großer Entfernung klar in Mischas Gedanken drängen. Am weitesten Ende des Spektrums gab es wiederum Leute, die so ruhig und verschlossen waren, daß Mischa sie kaum wahrzunehmen vermochte. Sie konnte Chris ein wenig besser ausmachen als die meisten übrigen Leute: niemals ganze Gedanken oder Worte, nur vage Gefühlsregungen und Emotionen.
    Sie verweilte noch einige Minuten bei ihm. Ihre Sorge um ihn war nutzlos. Sie hätte gern geweint, aber es wollten sich keine Tränen einstellen, noch konnte sie die verstrickten Fäden ihres Kummers entwirren. Um zu überleben, mußte sie eigennützig sein, aber wenn ihre Empfindungen eigennütziger Natur gewesen wären, hätte sie nur zornig sein können. Sie konnte nicht weinen, aber sie konnte ihn auch nicht hassen.
    Sie verließ die Nische mit

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