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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Hermann Hesse
    Die Erzählungen 1900–1906
    Sämtliche Werke Band 6
    Erwin
    I
    Wie ein dunkler Grenzturm liegt zwischen den Spielplätzen meiner Kindheit
    und den Gärten und Wildnissen meiner Jünglingszeit das alte Kloster.
    Ich sehe seine Mauern und Säulen trotzig stehen und lange Schatten in mein
    Jugendleben werfen, und muß doch lächeln und kann mich des schnelleren
    Herzschlags nicht erwehren, wenn mein inneres Auge die festen Mauern des
    Paradieses
    und die Wölbungen der gotischen Kreuzgänge erblickt. Oft hatte
    ich Sehnsucht, den Ort meiner ersten Nöte und Träume wieder zu sehen, die
    Geburtsstätte meines Heimwehs und meiner ersten Lieder.
    Das Kloster liegt zwischen mehreren Hügeln im Tal, schwer, von romanti-
    schen Schatten umgeben. Ich stand oft am Gitter des Parlatoriums, welches
    den Mönchen karge beaufsichtigte Gespräche mit besuchenden Anverwandten
    gestattete, und hatte das Herz voll von Freundschaft und Heimweh, und hatte
    keinen, dem ich davon reden durfte. Ich schritt oft mit beklommenem Sinn
    durch die steinernen Dormente, und war allein, und hörte nur den Klang und
    Widerhall meiner Schritte und aus der Brunnenkapelle den singenden Laut
    des fallenden Wassers.
    In einem der großen Schlafsäle verbrachte ich manche halbe Nacht heiß und
    wachend, in Zukunftgedanken, in Dichterphantasien, und allen Nöten meiner
    ratlosen Jugend. Alle Romantik, die ein Knabenherz erfüllen und beschweren
    kann, war in mir lebendig, ich war erfüllt von allen einander widerstrebenden Idealen der ersten Jugend. Die Helden Homers und die Helden Klopstocks,
    die Wunder Athens und Altdeutschlands stritten um meine Verehrung. Meine
    Stimmungen waren im Bann der mondbeschienenen Einsamkeit, der ich viele
    Abende in den hohen, gewölbten Räumen des Oratoriums und der Dormente
    mich hingab. Tage lang schlug mein leidenschaftliches Herz den verheißenen
    Tempeln der Wissenschaft warm entgegen, zu jedem Fleiß und zu jeder Ent-
    sagung bereit, und wurde wieder des Nachts von Verachtung und Sehnsucht
    gequält. Dann träumte ich von Höhen und glänzenden Möglichkeiten, und
    schmachtete gefangen, und lernte früh die Sehnsucht nach Freiheit.
    2
    Wenn ich in der freien Mittagsstunde den nächsten Hügel erstieg, sah ich die weiten Gebäude des Klosters unter Schieferdächern stattlich beieinander gela-gert. Zwei Kirchen mit langen, kreuzförmigen Dächern und festen, steinernen
    Vorhallen, zwei Refektorien, Oratorium, Hörsaal und Dormente, im Innern
    die gotischen Kreuzgänge. Dort wartete Livius, Xenophon und der göttliche
    Homer auf mich, dort war mein Pult und Bett, beide Zeugen ernster und
    schwärmerischer Gedanken und Phantasien, dort war der Ort unsrer Spiele,
    Kämpfe und Enttäuschungen. Umschauend sah ich auf der anderen Hügelseite
    den tiefen See gebreitet, dahinter Feld und Gebirg und Weite. Dort war das
    Unbekannte, das Größere, die Ferne, die Welt, die Freiheit. Dort lag die helle Bahn, mit anderen in die Weite zu laufen, dort lagen verborgene Ziele, Größe und Untergang, für alle Freien. Dort waren die Freunde, deren ich bedurfte,
    dort waren Berater und Mitwisser meiner Heimlichkeiten, Genesung und freie
    Luft für meine stummen Sorgen und Bedrängnisse.
    Vielemal bin ich den kurzen Weg mit schwerem Herzen und wunder Seele
    hinabgestiegen. Wenn ich den Klosterplatz betrat, traf ich die Kameraden bei Turnen und Ballspiel oder lachend und ruhend auf den Bänken im Schatten
    des Ahorn. Ich suchte oft, und ich fand nirgends den Blick, der mich verstand.
    Dann griff ich selber zum Ball und sprang allen voraus über den Platz, mit Hallo und heißen Wangen, der Rascheste und Wildeste von allen. Abends, wenn
    der Weg ins Freie versagt war, führte die Einförmigkeit des Lebens und die
    Verschiedenheit der vielen Schüler zu vielerlei Zeitvertreib und Spiel. Häufig fanden Raufhändel statt, bei denen ich oft mit Ekel zuschaute und noch öfter mit Ruf und Faust mich beteiligte. Ich führte ein großes Heft, in welches ich die Helden, die uns täglich aus Livius und aus dem Geschichtsunterricht bekannt wurden, mit Bleistift und Wasserfarben nach Art der Moritatenbilder
    karikierte, dieselben Helden, unter denen ich Freunde, Tröster und Vorbilder verehrte. Ich errichtete ein delphisches Orakel im Verein mit drei Helfern. Von diesem herab gab einer von uns, vermummt und gefeit, den zudrängenden
    Fragern, in Ratschläge eingewickelt, kräftige Grobheiten zu hören. Von diesen Spässen hielt keiner

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