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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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teilten die Welt in zwei Hälften. Unten, in dem blauen Schatten, brodelte der Nebel. Wo er aufriß, schimmerte der von Sprüngen zerrissene wie mit Striemen bedeckte Kantschugletscher hindurch. Im Osten und Norden erhoben sich die Gipfel des Kantschindschau, des Makau und des Pauluari, deren Felsrippen teilweise von Schnee freigefegt waren und deren Hänge von langenWolkenstreifen durchschnitten wurden. Hinter diesen Bergen, schon in Tibet, ragte ein unbekannter Gipfel, eine breite Pyramide mit einer blendendweißen Spitze hervor.
    Wir waren bereits an der Achttausendmetergrenze. Die Mehrzahl der Gipfel schwamm unter uns im Nebelmeer. Nur im Westen, fast hundert Kilometer von uns entfernt, stand weiß und unbeweglich der Mount Everest so riesenhaft vor dem Himmel, als wäre er nicht mehr ein Teil unserer Erde, sondern ein fremder Himmelskörper, der jenseits des Horizontes emporstieg. Ich ging als erster. Erik ungefähr zehn Schritte hinter mir. Die Funkengarben, die der Schnee in die Augen warf, blendeten uns trotz der Schutzbrillen. Meine Lippen waren schon seit langem aufgesprungen und geschwollen. Das war einer der Gründe, warum wir uns nur durch einige kurze, gemurmelte Worte verständigten.
    Der Kantschindschinga ist berühmt und berüchtigt durch seine ›Eisgespenster‹, die ihn technisch schwieriger machen als den Mount Everest. Die besonderen Bedingungen des Tauens, des Gefrierens, der Kristallisation erwecken aus den Schneemassen eine Zauberwelt der ungewöhnlichsten Formen. Kilometerweit reihen sich auf den Graten riesenhafte phantastische Gebilde aneinander, die aus einem Alptraum zu stammen scheinen: gewundene Türme, Säulen und ganze Labyrinthe aus getauten und wieder gefrorenen Wächten und Eisklumpen. Die Köpfe und Kämme dieser Berggespenster überziehen sich infolge der Sonnenwärme mit einer Glasur von Eis. Auf diese Weise entstehen Decken und Eishelme, von denen viele Meter lange Stalaktiten herabhängen.
    Bis über die Knie im Schnee watend, suchte ich den geeigneten Weg zu finden. Der Grat verengte und verbreiterte sich in einem fort. Zuweilen mußte ich hart am Rande weiterschreiten und den Schneetürmen vorsichtig ausweichen, um sie nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Manchmal gelang es auch, über sie hinwegzusteigen. Dann saß ich oben und rollte die Leine ein, an der Erik zu mir emporklomm. Ein andermal wühlten wir am Fuße einer solchen Säule eine Vertiefung in den Schnee und schoben uns, nur die Fingerspitzen auf den schwankenden Koloß stützend, Schritt für Schritt an ihm vorbei.
    Plötzlich versperrte uns ein riesiger Pilz aus ineinandergefrorenenStücken von altem und neuem Schnee den Weg. Ich schlug den Eispickel ein, um zu probieren, ob man ihn nicht überklettern könne, fühlte aber, daß er im Innern lose und wacklig war. Wenn wir uns unter dieser etwa fünfzehn Meter hohen Masse wie die Maulwürfe hindurchgruben, konnte sie jeden Augenblick über uns zusammenbrechen. Ich spähte nach links und dachte dabei an ein Traversieren oberhalb des Zemugletschers; aber der Firn des Hanges war über und über von Rissen bedeckt, es drohte Lawinenbildung. Auf der rechten Seite war nichts, überhaupt nichts. Unvermittelt stürzte ein Stein, wie mit einem Messer angeschlagen, in die Tiefe und flog senkrecht viertausend Meter tief bis auf den Kantschugletscher hinab. Er hatte eine Art engen Durchgang frei gemacht.
    An dieser Stelle neigte sich der Pilz zur Seite. Gut fünf Meter lange Eiszapfen hingen in dichtem Spalier von seinem Hut herab. Dort mußten wir hindurch. Ich ging voran, mit gebeugten Knien und gesenktem Kopf, um nicht an das Dach zu stoßen. Zwischen den Eiszapfen schimmerte der Himmel herein. Noch einige vorsichtige Schritte, und der Tunnel war zu Ende. Vor uns lag etwas Schwarzes. Meine Augen waren noch von dem Blitzen und Funkeln des Eises geblendet. Es dauerte längere Zeit, ehe ich sie wieder zu öffnen vermochte. Nun merkte ich, daß im Grat eine breite Spalte gähnte. Absteigen konnte man verhältnismäßig leicht; drüben jedoch erhob sich eine kleine Wand, besser gesagt, eine nicht hohe, aber steile Schwelle. In den Alpen wäre sie ein Kinderspiel gewesen; hier dagegen, wo an ein einfaches Hinaufziehen mit den Händen kaum gedacht werden konnte, bildete sie ein ernstliches Hindernis. Ich blickte mich um und suchte nach einer Möglichkeit, den Spalt zu umgehen. Aber es gab keine. Auf der einen Seite des Zemugletschers drohten Lawinenhänge und auf der anderen

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