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Die Astronauten

Die Astronauten

Titel: Die Astronauten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Wegabschnitten war für mich die beschwerlichste Periode der ganzen Expedition.
    Der Kantschindschinga, oder, wie wir ihn in unserer Lagersprache einfach nannten, der ›Kantsch‹, ist mit seinen achttausendfünfhundertneunundsiebzig Metern der dritthöchste Gipfel der Welt. So wie andere Achttausender, besteht er auseinem riesigen System von Gebirgsketten, die sternförmig in der Gipfelpyramide zusammenlaufen. Mit Rücksicht auf die Lawinengefahr sind im Himalajagebiet die Grate die einzig gangbaren Wege. Wir erstiegen einen der Ausläufer des Massivs und strebten auf seinem Rücken dem Gipfel zu. Zu der Zeit, in der meine Geschichte eigentlich erst beginnt, war die Witterung sehr gut. Vor uns lag die Schlußetappe unserer Anstrengungen. Trotz eines fünf Wochen währenden Angriffs hatten wir den Gipfel noch nicht bezwingen können. Und dabei trennten uns noch ganze zwei Kilometer Luftlinie von ihm. Die Marschroute war natürlich etwas länger; denn der Gebirgskamm krümmte sich an dieser Stelle wie ein langgezogenes S.
    Jeden Tag war mit dem Monsun zu rechnen. In der Ferne, unterhalb der Südgipfel, die schroff zur bengalischen Ebene abfallen, verdichteten sich bereits die ersten milchig-flammigen Wolken. Unser letztes Lager, das elfte, lag unmittelbar hinter dem Grat auf einer schrägen Felsplatte, die jäh oberhalb des Zemugletschers abbrach.
    Ich möchte Ihnen nicht erzählen, was wir bis zu dieser Zeit durchgemacht hatten. Damit Sie aber wenigstens einigermaßen verstehen können, was nachher geschah, muß ich Ihnen erklären, in welcher Verfassung wir uns alle befanden. Selbstverständlich litten wir, einer wie der andere, unter der beginnenden Bergkrankheit. Am schlimmsten waren die im Schlafsack verbrachten Nächte, wenn man vor Kälte erstarrte und immer wieder aus Luftmangel aufwachte. Bei völliger Ruhe zählten wir ungefähr hundert Pulsschläge in der Minute. Und dann die Appetitlosigkeit! Wir aßen, weil wir wußten, daß man essen muß. Das erschwerte Atmen in einer Luft, die fast nur noch ein Drittel des normalen Sauerstoffgehaltes besitzt, wurde zur fast unerträglichen Qual. Zu alldem kam noch der langsame Wechsel des psychischen Zustandes, der sich erst nach und nach bemerkbar machte. Anfangs wird man apathisch. Selbst die leichteste Arbeit, zum Beispiel das Sammeln von Schnee für das Kochwasser, war mit einer ungeheuren Willensanstrengung verbunden. Das Aufsuchen eines Lagerplatzes, das Feuermachen unter dem kleinen Herd, das Trocknen der Schuhe – alles geschah mechanisch, als ob man zu einem Automaten geworden sei. Erst dann, wenn es frühmorgensauf dem noch ungebahnten Wege weiterging, wenn man sich wieder bewußt wurde, daß noch nie eines Menschen Fuß diesen Grat betreten hatte, dann war es, als würden in unserem Innern die letzten Reserven frei ... und dann spürte man wieder neue Kraft in den Gliedern.«
    Ich machte eine Pause, denn der Mund war mir trocken geworden. »Um sechs Uhr morgens, als die Morgendämmerung eben den Himmel rötete, brachen wir auf. Außer dem Rucksack mit der Thermosflasche, einigen Tafeln Schokolade und Vitaminkonzentrat trugen wir die Eispickel, Haken und einen ziemlich großen Vorrat an Seil mit uns. Der Schnee knirschte unter unseren Sohlen. Als ich mich noch einmal umwandte, sah ich unsere beiden Gefährten, die vor dem Zelt standen und schützend die Hand über die Augen hielten; denn wir schritten geradewegs in die emporsteigende, aufflammende Sonne hinein.
    Ich wußte, wie sehr sie uns beneideten. Jeder von ihnen wäre gern an unserer Stelle gewesen; aber nur wir zwei waren noch imstande, weiterzugehen. Die beiden Zurückbleibenden warteten auf die anderen, die sie ins Tal hinabführen sollten.
    Mein Freund Erik stapfte hinter mir. Ich kann nur so viel von ihm sagen, daß ich mit keinem Menschen so gut zu schweigen vermochte wie mit ihm. Wir verstanden uns ohne Worte. Wenn ich ihn ansah, wußte ich, was er wollte. Seine Gegenwart machte mich stärker. Wie stets zu Tagesbeginn, mußte man erst langsam wieder in Schwung kommen. Zwanzig Schritte, ohne stehenzubleiben – ich versuchte es immer wieder, aber es gelang mir nicht. Zwölf Schritte, das war mein Rekord in dieser Höhe. Die Lungen arbeiteten wie ein Blasebalg, und wenn es erforderlich war, mit dem Eispickel Stufen einzuhauen, dann schlug einem schon nach einigen Schlägen das Herz bis in den Hals.
    Es brach ein Tag an, wie man ihn nur im Himalaja erleben kann. Die waagrechten Strahlen der Sonne

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