Jay: Explosive Wahrheit (German Edition)
1
Er hätte sich nie auf diesen Kampf einlassen dürfen. Wenn ihm nicht in den nächsten Sekunden etwas einfiel, war er gezwungen, zu atmen. Keine besonders gute Idee, wenn sich der Kopf ungefähr einen Meter unterhalb der Wasseroberfläche befand. Der Griff seines Gegners ließ ihm keinen Freiraum, jeder Tritt oder Schlag ging ins Leere.
Er hätte sich einen anderen Weg suchen sollen, mit der schwellenden Wut und dem wachsenden Frust umzugehen. Die Einsicht kam zu spät.
Jay DeGrasse unternahm einen letzten Versuch, sich zu befreien, wieder vergeblich. Sein Mund öffnete sich wie von selbst. Ehe das Wasser des Pazifiks in seine Lungen eindringen konnte, wurde er hochgezogen. Er hasste es, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, und das galt insbesondere für seinen älteren Bruder Luc. Aber aus Trotz zu ertrinken wäre dann doch übertrieben gewesen. Keuchend schnappte er nach Luft. »Geht es dir jetzt besser?«
Neben dem offenkundigen Spott lag auch deutliche Sorge im Blick seines Bruders. Wenigstens fragte Luc nicht direkt nach, ob er verrückt geworden war. Jay hatte zwar schon als Kind Karate gelernt und als Special Agent des FBI eine zusätzliche Nahkampfausbildung erhalten, war aber dennoch im Vergleich zu Luc ein Amateur. Sein Bruder gehörte der Spezialeinheit SEALs der US Navy an, und obwohl Lucs Aufgaben eher zum Anti-Terror-Kampf gehörten, war das Wasser das natürliche Element der Elitesoldaten. Ihn zu einem Trainingskampf in dieser Umgebung herauszufordern, war ausgesprochen unüberlegt von ihm gewesen.
Erst als Luc seine Augenbrauen zusammenzog, bemerkte Jay, dass die Frage seines Bruders noch unbeantwortet zwischen ihnen hing.
»Ja, sicher. Ich wollte nur testen, ob du noch in Form bist.« Husten begleitete jedes seiner Worte und verhinderte die beabsichtige scherzhafte Wirkung.
»Lass uns zurückschwimmen. Wir müssen uns unterhalten.«
Jay kannte seinen Bruder zu gut, um zu hoffen, dass er dem drohenden Kreuzverhör entkommen konnte. Luc würde warten, bis sie an Land waren, und dann eine Erklärung fordern. Leider hatte Jay keine Ahnung, wie er die gerechtfertigten Fragen beantworten sollte. Er wollte weder Mitleid noch Hilfe, sondern einfach nur eine Lösung für seine Probleme – und zwar eine, auf die er selbst kam. Aber das konnte er seinem älteren Bruder kaum klar machen. Brüder konnten die Pest sein, insbesondere ältere, und er hatte vier davon, die schon seit seiner Kindheit glaubten, ihn beschützen zu müssen.
Den kurzen Aufschub, bis sie den Strand erreicht hatten, würde er genießen. Mit langsamen Kraulzügen schwamm er zurück und richtete sich erst auf, als seine Knie beinahe den Sand berührten. Bereitwillig griff er nach Lucs ausgestreckter Hand und ließ sich hochziehen.
Blinzelnd versuchte er gegen die Sonne den Mann zu identifizieren, der neben ihren Handtüchern stand. Vielleicht rettete der Besucher ihn vor den Fragen seines Bruders.
Seine Hoffnung schwand, als er die hochgewachsene, schlanke Gestalt von Scott Henderson erkannte. Der blonde Texaner war nicht nur Lucs Stellvertreter in dessen Team, sondern die beiden waren auch eng miteinander befreundet. Jays Eltern hatten Scott quasi als sechsten Sohn adoptiert, und Luc würde keine Hemmungen haben, ihn sich vor Scott vorzunehmen. Im Gegenteil, sein Problem hatte sich durch Scotts Anwesenheit verdoppelt.
Scotts missmutige Miene konnte er allerdings nicht einordnen. Der Texaner konnte kaum mitbekommen haben, dass Jay einen ziemlich dämlichen Weg gewählt hatte, sich abzureagieren. Als Luc neben ihm leise stöhnte, atmete Jay erleichtert auf. Scotts Ärger galt also Luc.
»Alles arrangiert, Commander. Deinem Abflug steht nichts mehr im Wege.«
Es hätte nur noch gefehlt, dass Scott formell gegrüßt hätte. Die bissige Erklärung passte nicht im Geringsten zu dem sonst so lockeren Umgangston der beiden.
Unbeeindruckt trocknete Luc sich ab. »Danke.«
»Es wäre kein Problem, dich zu begleiten. Es ist absoluter Wahnsinn, dass du dich auf diesen Alleingang eingelassen hast.«
»Das haben wir oft genug diskutiert, Scott. Außerdem hätte ich ablehnen können. Es war kein Befehl, sondern eine Frage, oder eher eine Bitte.«
Jay schlang sich das Handtuch um die Hüften. »Sekunde mal, Jungs. Ich dachte, ihr fliegt gemeinsam.«
Scott schüttelte langsam den Kopf. »Irrtum, Kleiner. Dein Bruder ist neuerdings Solo-Spieler, und das alles nur, weil …« Er brach mitten im Satz ab und machte eine wegwerfende
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