Die Augen der Medusa
der Alte werden könnte, beeilte sich Lidia, die Sache festzumachen. Zum 1. April zogen sie in das Pflegeheim ein.
Dass Franco mit seinen Sprüchen und Geschichten die Seele Monteseccos gewesen war, begriffen die übriggebliebenen Dorfbewohner spätestens, als er weg war. Die Leere, die Antonietta schon vorhergeahnt hatte, legte sich nun über die engen Gassen und die plötzlich viel zu groß wirkende Piazza. Obwohl das Frühjahr genau die richtige Mischung aus Regen und Sonne brachte, obwohl alles grünte und spross, dass man es sich schöner nicht wünschen konnte, wurde es keinem der Verbliebenen mehr richtig warm ums Herz. Vor allem abends, wenn die Schatten länger wurden, wenn der Wind um die verrammelten Türen strich und die Fenster dunkel blieben, glaubte man den Tod zu spüren. Er würde nicht irgendwann kommen, sondern war schon längst da, ließ den Putz von den Mauern bröckeln und wartete geduldig, bis alle einsahen, wer hier das Sagen hatte.
Gegen Mitte Mai herrschte noch einmal Aufregung rings um die Piazza. Ein Location-Scout tauchte auf, streifte mit seiner Praktikantin durchs Dorf und ließ sich von den Sgreccias in den Keller führen, wo er den Tunnel bewunderte. Unglaublich sei das alles, irre, toll, und er sei sich sicher, dass der Spielfilm, den seine Produktionsfirma unter dem Arbeitstitel »Die Augen der Medusa« in Auftrag gegeben habe, für Montesecco ein Segen sein werde. Das gelte auch, wenn der Film nicht an den Originalschauplätzen gedreht würde. Er stelle sich nämlich eine etwas spektakulärere Szenerie vor. Zum Beispiel ein kleines Dorf in Apulienmit diesen fast griechisch anmutenden, strahlend weiß gekalkten Häusern, hinter denen man majestätische Sonnenaufgänge über dem unendlichen Meer beobachten könne.
»Ein Ort am Strand?«, fragte Angelo Sgreccia. »Da gibt es doch gar keine Keller, zwischen denen man einen Tunnel …«
»Das wird sowieso im Studio gemacht«, sagte der Mann.
»Ach so«, sagte Angelo.
Der Location-Scout bedankte sich überschwänglich für die interessante Führung und reiste samt Praktikantin ab. Man hörte nie mehr von ihnen.
Der Ginster blühte, das Gras wuchs, das Unkraut wucherte über die ehemaligen Gemüsebeete. Bei einem der ersten Sommergewitter im Juni schlug der Blitz in der alten Pinie neben dem Kirchturm ein und spaltete den Baum bis kurz über dem Boden. Die Stromversorgung Monteseccos fiel für ein paar Stunden aus, aber zu Schaden kam niemand. Dennoch nahm Elena Sgreccia den Vorfall zum Anlass, ihren sofortigen Abschied kundzutun. Ein Fluch liege über Montesecco, und keiner, keiner werde es schaffen, sie noch eine Nacht länger hier ausharren zu lassen. Angelo zuckte die Achseln. Dann mussten sie beide eben gehen. So sehr er das bedauere und die anderen vermissen werde, was solle er machen? Er könne seine Frau doch nicht allein in die Fremde schicken.
Milena Angiolini hielt das Gerede vom Fluch für völligen Unsinn. Aberglaube sei wahrlich kein Grund, Montesecco zu verlassen. Mamadou und sie hätten sich nur überlegt, dass es für Davide, der ja bald eingeschult würde, besser wäre, am Schulort zu wohnen. Schon allein der sozialen Kontakte wegen. Unter Klassenkameraden wolle man sich doch mal schnell besuchen oder zusammen Hausaufgaben machen oder sonst etwas. Zwar beginne der Unterricht erst Ende September, aber sie hätten da gerade ein äußerst günstiges Wohnungsangebot in San Lorenzo,und die Kinder bräuchten auch Zeit, um sich einzugewöhnen. Mamadou und Milena zogen drei Tage nach den Sgreccias weg.
Der Juli wurde heiß, und die ersten Augusttage noch heißer. Das Gras, das sich in den Ritzen der Türschwellen eingenistet hatte, verdorrte, und nur die zähesten Disteln überlebten in den nicht gewässerten Gärten. Die Wespen bohrten sich durch geschlossene Fensterläden und bauten ihre Nester in die dunklen Zwischenräume vor den staubigen Scheiben. Die verlassenen Häuser wurden von Skorpionen und Spinnen in Besitz genommen, während die Smaragdeidechsen sich über die Piazzetta jagten, auf die zum ersten Mal, seit sich Matteo Vannoni erinnern konnte, keine Tische unter die beiden Schattenbäume gestellt worden waren.
Zusammen mit Antonietta saß Vannoni auf der Steinbank gegenüber der Kirchentür. Sie beide waren als Einzige in Montesecco geblieben und würden auch weiterhin bleiben. Sie würden beobachten, wie sich die Natur Tag für Tag ein Stück mehr von dem zurückholte, was die Menschen aufgegeben hatten.
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