Die Augen der Medusa
Ihnen aber versichern, dass ein hohes Tier hinter der Sache steckt. Ein Mann, der bloß einmal mit den Fingern schnippen muss, damit meine ganze Familie ausgelöscht wird.«
»Ein Politiker?«
»Kein Kommentar.«
»Sie sehen das falsch« , sagte die Reporterin. »Ihr ominöser Hintermann hat nur Handlungsspielraum, solange sein Name nicht bekannt ist. Doch wenn Sie auspacken, wenn Sie ihn vor Millionen Fernsehzuschauern entlarven, wird keiner mehr wagen, die Drecksarbeit für ihn zu erledigen. Gerade wegen Ihrer Familie sollten Sie jetzt reden.«
Das Fernsehbild wanderte seitwärts, bis es Russo von vorn zeigte. Sein starres Gesicht füllte den Bildschirm aus.
»Wenn es diesen Mann überhaupt gibt«, sagte die Reporterin. »Wenn Sie ihn nicht nur erfunden haben, um sich und Ihre Komplizen zu entlasten. Vielleicht sollten Sie unseren Zuschauern einfach erläutern, was Sie selbst …«
»De Sanctis!« , stieß Russo hervor. »Innenminister De Sanctis hat das alles zu verantworten. Wir haben nur die Befehle ausgeführt, die wir von unserem obersten Dienstherrn persönlich erhalten haben. Er hat die Operation Medusa in allen Einzelheiten geplant, nachdem er von einem Vertrauensmann in der Staatsanwaltschaft Rom informiert wurde, dass Ermittlungen gegen ihn anliefen. Es ging um irgendwelche Geschäfte mit der Mafia, die dieser junge Computerhacker da hinten offensichtlich nachweisen konnte. Wir wurden losgeschickt, um die Übergabe der Informationen an Oberstaatsanwalt Malavoglia zu verhindern und die Zeugen so zu beseitigen, dass kein Verdacht auf den Minister fallen konnte. Ich persönlich habe nur eine Nebenrolle gespielt. Mit dem Granatwerferattentat auf Malavoglia habe ich gar nichts zu schaffen. Das haben Sventura und Longhi erledigt. Wer von den beiden geschossen hat, weiß ich nicht. Ich war nicht einmal am Tatort. Petacchi und ich mussten schon vor dem Attentat den Jungen unter Kontrolle bringen, damit er kein Alibi hatte oder sich gar aus dem Staub machte. Unser Auftrag bestand ja darin, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben …«
»… und ihn letztlich ebenfalls zu ermorden« , sagte die Reporterin dazwischen.
»Wir sollten dafür sorgen, dass er den Angriff des NOCS nicht überlebt, ja. ›Ihr liefert mir einen toten Täter und keinen lebenden Zeugen‹, hatte uns De Sanctis befohlen. Das war eindeutig. Was sollten wir denn machen? Aber glauben Sie mir, ich bin froh, dass es nicht dazu gekommen ist. Wenigstens klebt kein Blut an meinen Händen.«
»Und der Schuss auf die Mutter des Jungen?«
»Keine Ahnung. Ich war zu der Zeit hier im Keller. Es muss einer der anderen drei gewesen sein. Den Jungen haben wir gut behandelt, das kann er Ihnen bezeugen. Wenn er nicht immer wieder versucht hätte abzuhauen, hätte ich ihn nicht einmal in die Kiste gesperrt. Aber vielleicht hat ihm das ja sogar das Leben gerettet, als die Mauerbrocken hier durch den Raum flogen.«
»Vor allem konnten Sie ihn nicht so schnell wie geplant beseitigen. Wie haben Sie sich das denn vorgestellt? Es hätten ja auch die Einsatzgruppen der Polizei die Kellerwand sprengen können.«
»Keiner konnte doch jetzt schon mit dem Angriff rechnen. Wir waren sicher, dass ohne die Zustimmung des Innenministers nicht losgeschlagen würde, und De Sanctis hat versprochen, uns rechtzeitig per Handy Bescheid zu geben. Dann hätten wir alles vorbereitet. Als Codeworte hatten wir ›Medusa schließt die Augen‹ vereinbart.«
Es waren die letzten Worte, die Russo ins Mikrofon sprechen konnte, bevor ihm die schwarz gekleideten Männer der Spezialeinheit Handschellen anlegten. Den Jungen, der aus der Kiste gestiegen war, schirmten die Dorfbewohner ab. Die Kamera zeigte noch, wie die drei Komplizen Russos mit erhobenen Händen die Treppe herunterkamen und ebenfalls abgeführt wurden. Dann schaltete die Regie von Canale 5 ins Hauptstadtstudio zurück. Die Sprecherin kündigte eine Sondersendung an, in der die Hintergründe des Geiseldramas geklärt und das politische Erdbeben, das zweifelsohne schon die Regierung erschütterte, vermessen würden. Die Show »Paperissima« müsse leider ausfallen und werde zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt. Man bitte die Fans von Michelle Hunziker und Gerry Scotti um ihr Verständnis.
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Epìlogo
Eine Weile blieb es noch grau und ungemütlich, doch die Temperaturen stiegen beständig an. Der Regen fraß an der Schneedecke, die immer unansehnlicher wurde. Dann verzogen sich die Wolken, und bereits der erste
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