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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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alles schien: wohin er ging, was er tat, wo er, ja, selbst wer er war. Welche Zeit, welches Land – egal!
    Eine ganze Weile wankte Jeff so mit seinem Gepäck, das nicht schwer war, durch die Straßen.
    Dieses Pharisäertum! Diese Halt-dein-Kränzlein-rein-Heuchelei, dachte er. Widerlich! Und es paßte überhaupt nicht zu Phyl. Und doch war sie jetzt so geworden. Er hatte all die Jahre von einem Traum gezehrt, einem aberwitzigen 352
    Traum. Aber wovon hatte er eigentlich geträumt? Nicht einmal davon, sie eines Tages doch noch heiraten zu können. Trotzdem, er hatte einen Traum gehabt. Wenn er sie heute bloß nicht wiedergesehen hätte!
    Und was wäre damit gewonnen gewesen?
    Sein Leben. Soviel war klar. Darüber hinaus wußte er nichts, aber Klarheit in einem Punkt war immerhin etwas.
    Und bei Kyrogin hatte er auch Erfolg gehabt, und heute würde er nach New York zurückfliegen, in seine Firma.
    Nur ließ ihn all das auf einmal völlig kalt. Genauso wie sein trügerisches Eheglück mit Betty, wie die verlogene Familienfassade samt halbwüchsigem Sohn, der die richtige Schule besuchte. Geld! Es bedeutete ihm gar nichts.
    Nicht einmal sein Leben bedeutete ihm etwas.
    Jemand stupste ihn von hinten zwischen die Schulter-blätter. Jeff sah, daß er an der Kreuzung eines breiten, vier-oder sechsspurigen Boulevards stand und nicht reagiert hatte, als die Fußgängerampel auf Grün gesprungen war.
    Trotzdem wußte er, was er vorhatte, zumindest die eine Hälfte seines Ichs wußte oder verstand es. Die andere Hälfte zählte nicht. Er hatte aufgehört zu denken – über das Denken war er hinaus. Hatte er damit nicht schon genug Zeit vertan? Das alles ging ihm in Sekundenschnelle durch den Kopf, und als ein großer Laster auf ihn zugedonnert kam, der mit Höchstgeschwindigkeit direkt an ihm vorbei-brausen wollte, da ließ Jeff Koffer und Aktentasche fallen und warf sich der Länge nach vor den Kühler, wie ein Football-Tackler, der sich ins Leere wirft. Gespürt hat er dabei eigentlich nur den Aufprall aufs Kopfsteinpflaster.
    353

    Anhang
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    Nachwort

    Short Stories bedienen seit dem neunzehnten Jahrhundert einen riesigen Zeitschriftenmarkt, und aus Gründen der leichten Konsumierbarkeit setzt man voraus, sie erklärten sich selbst. Wer sie in der U-Bahn liest, wo er heftig durchgeschüttelt wird, darf erwarten, ein kompaktes, abgeschlossenes Stück Fiktion zu verzehren. Auch die Erzählungen von Patricia Highsmith, die hier unter dem Titel Die Augen der Mrs. Blynn erstmals in Buchform (und in einigen Fällen sogar als Welterstveröffentlichung) erscheinen, eifern diesem Gesetz nach. Sie sind, wie schon Edgar Allan Poe forderte, in one sitting zu lesen, und sie verlieren keine überflüssigen Worte. Manche entführen uns in eine längst versunkene und für Highsmith-Leser ungewohnte Welt, etwa in das München der Nachkriegszeit, wo sich die materielle Not an billigen Strümpfen und fadenscheinigen Jacken ablesen läßt. Andere scheinen eher die Erwartung an Kriminalerzählungen zu erfüllen, also an das Genre, mit dem man den Namen der Autorin häufig verbindet.
    Und dennoch empfiehlt es sich, sie nicht wie Wartezim-mer-Geschichten zu behandeln. Denn diese nachgelassenen Stories 1952-1980 bergen Geheimnisse, die über ihr jeweiliges künstlerisches Gewicht hinausgehen. Wie schon beim Vorgänger, dem Band Die stille Mitte der Welt: Stories 1938-1949, liegen die Motive der Autorin für ihre Zurückhaltung den eigenen Geschichten gegenüber weitgehend im dunkeln. Einerseits haben die Stories überlebt, 355
    gehörten also nicht zu den rund dreihundert Seiten Kurzprosa, die Patricia Highsmith 1973 nach gründlicher Sichtung vernichtete. Andererseits schienen sie nicht in die Sammlungen zu passen, die seit 1970 (Der Schneckenforscher), nach immerhin dreizehn Romanen, im Abstand von wenigen Jahren erschienen. Doch während der erste Band aus dem Nachlaß sich noch als Frühwerk bezeichnen läßt – sämtliche darin enthaltenen Erzählungen stammen aus der Zeit vor dem ersten veröffentlichten Roman Zwei Fremde im Zug (1950) –, wird die Scheu gegenüber der Kurzprosa aus den Jahren 1952 bis 1980 bei näherer Beschäftigung immer rätselhafter.
    Die Augen der Mrs. Blynn enthält Geschichten aus den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren, also aus genau den drei Jahrzehnten, in denen sich Patricia Highsmith in Europa einen außergewöhnlichen Ruf erwarb: den einer
    »literarischen« Suspense-Autorin. Wollte man das

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