Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
geredet? Wieso hatte er mich nie in dieses dunkle Kapitel seiner Kindheit eingeweiht? Hatte Frank die Erinnerung, indem er sie sich von der Seele schrieb, in eine unzugängliche Kammer seines Unterbewusstseins verbannt, wo sie geduldig darauf wartete, mit Urgewalt aus ihrem Gefängnis auszubrechen, wenn die Zeit reif sein würde?
Gerade hatte ich mich in meinem Zimmer auf das frisch bezogene Bett gelegt, um über die Entdeckungen des heutigen Tages nachzudenken, als die Türklingel mich aus meiner Trübsal riss. Ich öffnete und betrachtete den Besucher überrascht.
„Sie?“
„Hätten Sie einen Moment Zeit für mich, Herr Kramer?“, fragte Jan Lohoff und sah an mir herunter. „Ich kann auch später wiederkommen, wenn es Ihnen gerade nicht passt.“
Ich hatte mich bereits umgezogen und war nur mit einer schwarzen, unter den Knien abgeschnittenen Jogginghose und einem Feinrippunterhemd bekleidet.
„Nein, nein, ist schon in Ordnung, Herr Lohoff. Kommen Sie rein. Gehen Sie doch bitte schon mal in die Küche, ich ziehe mir nur eben etwas anderes an.“
Jan Lohoff zögerte kurz, dann trat er an mir vorbei in den Flur. Als ich wenig später in Jeans und T-Shirt die Küche betrat, stand er am Fenster und sah in die Ferne.
„Bitte setzen Sie sich doch“, sagte ich. „Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Ein Glas Wasser, wenn es Ihnen keine Umstände macht.“
Ich nahm ein Glas aus einem der Schränke. Zusammen mit der Wasserflasche stellte ich es vor Lohoff auf den Tisch. „Bedienen Sie sich.“
Er füllte das Glas zur Hälfte und trank einen Schluck. Seine Körpersprache zeugte von einer gewissen Beklemmung, als würde ihm der Aufenthalt in der Wohnung Unbehagen bereiten. Er schien nicht so recht zu wissen, wie er das Gespräch in Gang bringen sollte.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich hier bin“, begann er zögerlich. „Ich muss gestehen, ich kann Ihnen keinen vernünftigen Grund nennen. Sehen Sie, Herr Kramer, Frank ist seit fast einer Woche tot, und ich hatte bisher keine Gelegenheit, über seinen Selbstmord zu reden. Ernsthaft zu reden, verstehen Sie? Ich meine nicht die höflichen Floskeln und Mitleidsbekundungen, die mir tagtäglich an der Universität entgegengebracht werden. Und da sind Sie mir eingefallen.“
Ich konnte mich noch gut an Stefans Marcks´ Warnung erinnern. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, geh Jan lieber aus dem Weg. Ich hab den Eindruck, er ist nicht gerade gut auf dich zu sprechen . Und jetzt saß Lohoff hier in meiner Küche.
„Verzeihen Sie, Herr Lohoff, aber wieso gerade ich? Warum reden Sie nicht mit Stefan Marcks oder einem anderen Kommilitonen von Frank?“
„Stefan mag ein außergewöhnlich begabter Student sein, aber er hat Frank nicht halb so gut gekannt wie Sie“, erklärte er. „Kein Kommilitone hat ihm so nahe gestanden. Ich weiß, wir haben bisher keine zehn Sätze miteinander gewechselt, aber ich habe mir durch viele Kommentare von Frank durchaus ein gutes Bild von Ihnen machen können.“
„Nach dem, was ich so höre, hat Franks Videobotschaft dieses Bild in eine gewisse Schieflage gebracht. Man hat mir sogar geraten, Ihnen aus dem Weg zu gehen.“
„Wer hat Ihnen denn diesen Blödsinn erzählt?“ Lohoff schien ehrlich überrascht. „Ich habe nie etwas Derartiges angedeutet.“
Die Antwort verwirrte mich, und ich mahnte mich zur Vorsicht, nicht zu leichtgläubig zu sein.
„Die Polizei hat mir in der Nacht nach Franks Selbstmord zu verstehen gegeben, in dem Video sei auch von mir die Rede. Angeblich macht Frank mir darin Vorwürfe. Sie haben das Video gesehen, Herr Lohoff, und Sie hatten ein freundschaftliches Verhältnis zu Frank. Und doch sitzen Sie jetzt hier und wollen mit mir reden. Was hat Frank in dem Video über mich gesagt?“
„Wenn er etwas über Sie gesagt hat, wäre das angesichts seiner Agonie kein Grund, sich Vorwürfe zu machen“, erwiderte Lohoff ausweichend. „Ja, Philip, ich habe das Video gesehen. Glauben Sie mir, Sie für Franks Tod verantwortlich machen zu wollen, entbehrt jeglicher Grundlage. Lassen wir es dabei bewenden.“
Mir war nicht entgangen, dass er von „Herr Kramer“ zu meinem Vornamen übergegangen war, ohne auf das förmliche Sie zu verzichten. Dabei lagen wir höchstens sechs, sieben Jahre auseinander. Wahrscheinlich war es für Lohoff nicht leicht, seine Studenten auf Distanz zu halten, um sich ihres Respekts zu versichern.
„Wie hatten Sie denn so schnell von Franks Suizid
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