Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
schon gewundert, warum Papa nur noch schöne Anzüge trug. Der Doktor, zu dem sie ihn schickten, war freundlich. Er hörte ihm aufmerksam zu, wenn er etwas erzählte, und er lobte ihn immer, weil er so viele Bücher las und viel klüger als die anderen Kinder in seinem Alter sei. Er war ganz stolz und unterdrückte die Tränen, wenn seine Arme und Beine wegen der Übungen wehtaten. Manchmal tat ihm auch noch der Kopf weh, aber er wollte nicht wieder im Krankenhaus liegen. Wollte nicht, dass man ihm wieder alle seine Haare abschnitt. Das hatte man jetzt schon dreimal gemacht, und immer musste er lange im Krankenhaus bleiben. Ohne Haare konnte man die gezackte Naht auf seinem Kopf sehen, die aussah wie ein Reißverschluss. Aber zu dem netten Doktor ging er wirklich gerne, und als seine Eltern ihm erklärten, dass sie bald in eine andere Stadt ziehen würden, war er traurig.
Er war schon viel kräftiger geworden, als es so weit war. Papa und Mama nahmen ihn schon mal mit in die andere Stadt, damit er sich das schöne Haus ansehen konnte, in dem sie wohnen würden. Er weinte fast vor Freude, als er das Wasserbecken im Garten und sein neues, riesiges Zimmer sah. Von diesem Tag an konnte er es kaum noch erwarten, in die andere Stadt zu ziehen, und jeden Tag fragte er Papa und Mama, wann es denn so weit sein würde. Als Mama irgendwann sagte, das neue Haus sei fertig und übermorgen würden sie einziehen, konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Am nächsten Tag brachte Mama ihn zum letzten Mal zu dem netten Doktor in die Praxis.
Hätte sie das doch nur nicht getan.
An den anderen Tagen hatte sie ihn immer morgens zu dem Doktor gefahren, aber heute musste das Auto erst noch repariert werden, und als Mama es endlich abholen konnte, war es schon spät. Der nette Doktor war nicht mehr da. Nur ein anderer Doktor. Der andere Doktor sagte, er heiße John Doe, und er musste lachen, weil das so ein komischer Name war. Doktor Doe war ein Riese. Zuerst stellte er komische Fragen, zum Beispiel, ob er viele Freunde habe, ob er seiner Mama und seinem Papa immer alles sagen könne, und ob die ihm immer alles glaubten, auch wenn er sich etwas nur ausgedacht hatte. Dann zwinkerte er ihm mit seinen blauen Augen zu und gab ihm ein kleines Bonbon, weil er ja so ein tapferer Junge sei. Er steckte es sich sofort in den Mund und schmatzte vergnügt. Aber dann wurde er auf einmal ganz müde und konnte kaum noch die Augen offen halten. Er schlief nicht richtig ein, aber irgendwie war ihm schwummerig und schwindelig. Die Stimme von Doktor Doe hörte sich dunkel und ganz weit weg an, und er merkte, dass er sich gar nicht um seine Arme und Beine kümmerte. Er wollte nicht, dass der Doktor ihn da anfasste, wo er es tat, aber er konnte sich nicht bewegen. Er wollte nach seiner Mama rufen, aber die war ja einkaufen gefahren. Der Riese drückte ihm seine Pranke auf den Mund und gierte ihn mit seinen braunen Augen böse an. Er flüsterte, ein Indianer kenne keinen Schmerz, und wenn er petzen würde, würde er kommen und ihn holen. Dann drehte er ihn auf den Bauch.
Als er am nächsten Tag mit seinen Eltern in das neue Haus kam, schien die Sonne. Papa wollte mit ihm in das Wasserbecken springen, aber er sagte nur, er habe wieder diese Kopfschmerzen. Papa sah traurig aus und wollte ihm eine Geschichte vorlesen, aber er sagte nur, er sei sehr müde. Als er ging, machte Papa das Licht aus, und er weinte lange, bevor er endlich einschlief. Huckleberry Finn und Peter Pan verschwanden aus seinen Träumen. Ein Riese nahm ihren Platz ein. Jede Nacht.
Mama und Papa sahen von Tag zu Tag besorgter aus und wollten ihn wieder zu einem Doktor bringen, aber er wollte zu keinem Doktor mehr. Damit sie ihn nicht weiter gängelten, lachte und alberte er wieder viel. Aber er tat nur so, als ob. In Wahrheit wollte er nur noch weinen. Er glaubte, nie wieder fröhlich sein zu können, aber jeden Sommer wurde er ein Jahr älter. Immer noch las er viele Bücher, und manchmal tat er nicht nur so, als ob er lachte, er lachte wirklich. Irgendwann träumte er auch nicht mehr von dem Riesen. Irgendwann war er selbst groß geworden.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann ist er heute ein sehr gebildeter Mann.
Erschüttert von Franks Kindheitserlebnissen - um nichts anderes konnte es sich bei dieser Geschichte handeln - schlug ich die Hände vors Gesicht und unterdrückte nur mit Mühe den Drang, hemmungslos aufzuschreien. Warum hatte Frank nie mit mir über diese Erlebnisse
Weitere Kostenlose Bücher