Die Augen der Toten 01 - Die Augen der Toten Teil 1
erfahren, dass Sie schon am nächsten Morgen im Polizeipräsidium waren?“, fragte ich.
„Professor Beekmann hat mich gegen ein Uhr morgens angerufen. Und bevor Sie jetzt auf falsche Gedanken kommen - er ist vom Polizeipräsidenten über Franks Tod informiert worden. Fragen Sie mich nicht, woher die beiden sich kennen. Ich war selbst überrascht. Andererseits, über Professor Beekmanns weitreichende Kontakte muss ich Sie wohl kaum belehren.“
Es war nicht schwer, die versteckte Andeutung zu verstehen.
„Sie wissen Bescheid?“
„Über Ihre kleine Einlage im Büro des Dekans? Kommen Sie, Philip, glauben Sie ernsthaft, dass es an der Uni auch nur einen Menschen gibt, der nicht davon gehört hat? Sie sind eine bekannte Persönlichkeit. Man hat mir von den Reaktionen berichtet, die Ihr Rücktritt auf der Versammlung des Studierendenparlaments ausgelöst hat. Sie müssen sehr beliebt sein.“
„Hat mir nur herzlich wenig genutzt“, seufzte ich. „Ein tätlicher Angriff auf einen Professor ist kein Kavaliersdelikt. Hat man Carsten Bruns als meinen Nachfolger eingesetzt?“
Er nickte nur. Irgendetwas brannte ihm auf den Nägeln. Das war offensichtlich.
„Was halten Sie davon, irgendwo etwas trinken zu gehen?“, schlug ich vor. „Am Kreativkai vielleicht?“
Lohoff lächelte. „Gerne. Und ich heiße übrigens Jan. Lassen wir doch das alberne Sie.“
„ Cavete Monasterium !“ – „Hütet euch vor Münster!“ – lautete einst die Parole, wenn die Wahl des richtigen Studienplatzes anstand. Kein Wunder, galt die Bischofsstadt doch als Inbegriff preußischer Vergnügungsfeindlichkeit. Schon Ende der Sechziger konstatierte ein Kommilitone im Semesterspiegel, dass Münster von einem eigenartigen Konglomerat aus Weihrauch, marktschreierischer Geschäftstüchtigkeit und eigensinnigem Bürokratismus geprägt sei. Münster bestand aus zwei einander unverträglichen Ingredienzen: Der Stadt mit ihren Bürgern und der Universität mit ihren Studenten. Getrennt voneinander wie Öltropfen auf dem Wasser. Doch Studenten wären keine Studenten, wenn sie eine spaßfreie Schlechtwetterzone nicht in einen pulsierenden Freizeitpark verwandeln könnten. So reiht sich heute im Kreuz- und Kuhviertel eine Kneipe an die andere, im Theatercafé, im GoGo und anderen Tanzschuppen tobte das Nachtleben, und auch die Kulturszene hatte sich mit dem Pumpenhaus und dem Wolfgang-Borchert-Theater Denkmäler gesetzt. Mitte der Neunziger war der Stadthafen an der Reihe gewesen. Ein stetiger Rückgang des Güterumschlags hatte die meisten Firmen aus den Docks verjagt. Leerstehende Lagerhallen und verwaiste Grundstücke waren die Folge. Als die Erbpacht- und Mietverträge am Hafen ausliefen, bot sich die Gelegenheit, alternative Wege einzuschlagen. Während das südliche Ufer der Industrie vorbehalten blieb, schlug am Nordufer die Geburtsstunde des Kreativkais, an dem sich neben Künstlerateliers und Werbeagenturen auch Restaurants, Kneipen und Szeneclubs wie das Heaven oder der Hot Jazz Club ansiedelten. Wenn heute noch von „Cavete“ die Rede ist, ist die älteste Studentenkneipe der Stadt in der Kreuzstraße gemeint.
Es war schon weit nach Mitternacht, und noch immer saßen Jan und ich im Pier House. Gerade tischte unser Kellner zwei weitere Caipirinhas auf. Das Gespräch tat mir gut. Bislang hatte ich Franks akademische Fähigkeiten immer nur aus der Ferne beurteilen können, da es mir am nötigen Fachwissen mangelte, aber indem ich Jan bei seinen sentimentalen Schilderungen zuhörte, wurde mir mehr und mehr bewusst, dass Frank ein unglaubliches Potenzial besessen haben musste. Jan beschrieb ihn als ein Juwel, dem mit entsprechender Förderung eine bemerkenswerte Karriere bevorgestanden hätte. Selbst ein Stefan Marcks habe ihm nicht das Wasser reichen können. So wie Jan von Franks radikalen Denkansätzen schwärmte, gewann ich fast den Eindruck, er habe in seinem Schüler ein Stück weit sich selbst wiedererkannt. Wie mochten sich die anderen Studenten im Doktorandenkolloquium, Stefan eingeschlossen, wohl in ihren Statistenrollen gefühlt haben? Inzwischen war mir auch klar geworden, dass Jan nicht primär daran gelegen war, mit jemandem zu reden, wie er es zuvor noch betont hatte. Jan wollte erzählen . Seine Seele von wuchernden Geschwüren befreien. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihn ein wenig auszuhorchen.
„Wie hat es dich eigentlich in die Provinz verschlagen?“, fragte ich.
Jan sog am Strohhalm
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