Die Augen der Überwelt
Amulett. Sein zeitweiliger Herzenswunsch, die Herrschaft über Cil, war nun nicht nur vorgetäuscht. Schon fragte Cugel sich, ob er sich nicht schnell einen anderen Herzenswunsch ausdenken sollte. Beispielsweise die Beherrschung der großen Kunst der Viehzucht? Oder eine Meisterschaft in Akrobatik? Widerstrebend gab er diese Gedanken auf. Aber die Wirksamkeit des Fluches des Muschelgeschöpfes war ja noch nicht bewiesen.
Vom Strand führte ein Pfad aufwärts. Er schlängelte sich durch Büsche und duftende Blütenstauden: Zaubernuß, Heliotrop, schwarze Magnolie, Oleander, und durch Beete mit langstieligen Sternfunken, dunklen Bartblumen, ja sogar Wulstpilzen. Der Strand blieb als Band zurück, das im tiefen Rot des Sonnenuntergangs verschwamm, und die Landzunge von Benbadge Stull war nicht mehr zu sehen. Der Pfad verlief nun eben durch einen Lorbeerhain und endete an einem unkrautüberwucherten Oval, das wohl einst als Parade- oder Exerzierplatz gedient haben mochte.
Zur Linken erstreckte sich eine hohe Steinmauer mit einem großen Tor, das von einem sichtlich alten Wappen gekrönt war. Die Torflügel standen offen und vergönnten so einen Blick auf den etwa eine Meile langen, mit Marmor gepflasterten Zugang zu dem Palast, der ein beeindruckendes Bauwerk mit vielen Stockwerken und einem grünspanüberzogenen Bronzedach war. Vom Marmorzugang führte eine breite Freitreppe zu einer Terrasse an der Vorderseite. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und Dämmerung senkte sich herab. Da er keine bessere Unterkunft in Aussicht hatte, begab Cugel sich zum Palast.
Der breite Marmorweg, dereinst gewiß von makelloser Schönheit, war nun in beklagenswertem Zustand, dem das Zwielicht jedoch seinen eigenen Reiz verlieh. Der ehemalige Lustgarten zu beiden Seiten war ungepflegt und verwildert. Links und rechts des Weges standen hohe, geschlossene Marmorkrüge, verziert mit Girlanden aus Karneolen und Jade. In der Mitte des breiten Weges und ihn so zweiteilend, verlief eine Reihe von gut mannshohen Piedestalen, auf denen Büsten standen. Die Runenzeichen unter jeder Büste waren dieselben wie auf dem Amulett, wie Cugel sofort erkannte. Die Piedestale standen in einem Abstand von jeweils fünf Schritten die ganze Meile entlang bis zur Terrasse. Die ersten Büsten waren so verwittert, daß die Gesichter kaum noch zu erkennen waren, doch bei jeder weiteren wurden die Züge immer deutlicher. Piedestal um Piedestal, Büste um Büste starrte jedes Gesicht Cugel flüchtig an, während er zum Palast marschierte. Die letzte Büste der Reihe, dunkel in der Dämmerung, war die einer jungen Frau. Mitten im Schritt blieb Cugel davor stehen: Das war das Mädchen aus dem Schiffswagen! Derwe Coreme aus dem Hause Domber, Herrscherin von Cil!
Von böser Ahnung bedrängt, blickte Cugel auf das gewaltige Portal. Er war nicht gerade in Freundschaft von Derwe gegangen. Tatsächlich mußte er mit ihrem Groll rechnen. Andererseits hatte sie ihn bei ihrer ersten Begegnung in ihren Palast eingeladen, und das mit herzlicher Wärme. Möglicherweise hatte sie ihren Groll inzwischen vergessen, und die Wärme war geblieben? Beim Gedanken an ihre beachtliche Schönheit fand Cugel die Aussicht auf ein Wiedersehen verlockend.
Doch was war, wenn sie ihm noch grollte? Er mußte sie mit dem Amulett beeindrucken. Er konnte nur hoffen, sie bestand nicht darauf, daß er ihr seine Macht vorführte. Wenn er bloß die Runen zu lesen vermöchte, wäre alles ganz einfach! Doch da Slaye ihm Unterstützung verweigerte, mußte er sie anderswo suchen, und das bedeutete im Grund genommen, hier im Palast.
Er stand vor der breiten Freitreppe zur Terrasse. Die Marmorstufen waren mit Rissen durchzogen, und die Brüstung der Terrasse war mit Moos und Flechten bewachsen, was im Zwielicht jedoch auf düstere Weise recht malerisch wirkte. Der Palast selbst schien besser erhalten zu sein. Schlanke, gerillte Säulen bildeten einen hohen Bogengang, das Gesims war reich verziert, doch konnte Cugel im Dämmerlicht das Muster nicht erkennen. Hinter der Arkade schimmerte schwaches Licht aus hohen Bogenfenstern. Das Portal war geschlossen.
Cugel stieg die Stufen hoch. Frische Zweifel quälten ihn. Was war, wenn Derwe Coreme sich über seine Ansprüche lustig machte, ihn zum Schlimmsten reizte? Ja, was dann? Stöhnen und Entrüstung würden ihn nicht weiterbringen. Zaudernd schritt er über die Terrasse, immer mehr ließ seine Zuversicht nach. Unter der Arkade blieb er stehen. Vielleicht
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