Die Augen der Ueberwelt
Der Älteste zuckte die Schulter. »Das ist etwas, woran ich nicht denken mag. Ich erinnere mich schwach, daß ich in einem schmutzigen Stall hause und den einfachsten Fraß verschlinge – aber in meiner scheinbaren Wirklichkeit bewohne ich einen prunkvollen Palast und diniere mit Prinzen und Prinzessinnen, denen ich gleichgestellt bin, die köstlichsten Delikatessen. Man erklärt es sich folgendermaßen: Der Dämon Underherd spähte von seiner Unterwelt in diese; und wir von dieser in die Überwelt, die das Höchste an menschlicher Hoffnung und erfüllten Wunschträumen ist. Wir, die wir in dieser Überwelt zu leben scheinen, können uns für gar nichts anderes als edle Lords halten! Wir sind eben so!«
»Wie aufregend!« rief Cugel. »Wie kann ich ein Paar dieser magischen Kuppen erwerben?«
»Es gibt zwei Möglichkeiten. Underherd verlor vierhundertundvierzehn Kuppen, davon sind vierhundertundzwölf unter unserer Aufsicht. Zwei wurden nie gefunden, sie liegen vermutlich in der Tiefe des Meeres. Es steht dir frei, diese zu suchen und zu behalten. Die zweite Möglichkeit ist, Bürger von Grodz zu werden und die Lords von Smolod mit Nahrungsmitteln zu versorgen, bis einer von uns stirbt, was gelegentlich vorkommt.«
»Ich habe gehört, daß ein gewisser Lord Radkuth Vomin dem Tod nahe sei.«
»Nun, nicht unbedingt. Sieh selbst, das dort ist er.«Der Älteste deutete auf einen faßbäuchigen Greis mit hängenden Lippen, über die Speichel sickerte. Er saß vor seiner Hütte im Schmutz. »Er ruht sich im Lustgarten seines Palasts aus. Lord Radkuth überanstrengte sich in sinnlicher Lust, denn unsere Prinzessinnen sind von betörender Schönheit, und er vermochte seine Leidenschaft nicht zu zügeln. Es war des Guten zuviel und ist eine Lehre für uns alle.«
»Vielleicht ließe sich eine Sonderregelung treffen, daß er seine Kuppen mir vererbt?« fragte Cugel.
»Ich fürchte, das läßt sich nicht machen. Du mußt schon nach Grodz gehen und arbeiten wie alle anderen – wie auch ich es tat, in einem früheren Dasein, das mir nun fern und unwirklich erscheint … Zu denken, daß ich so lange litt! Du bist jung. Dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre sind keine zu lange Zeit, auf so etwas zu warten.«
Cugel drückte die Hand auf den Bauch, um den spürbar erregten Firx zu beruhigen. »Im Laufe so vieler Jahre mag die Sonne ganz erlöschen. Seht doch!« Ein schwarzes Flackern überquerte das Antlitz der Sonne und schien eine Narbe zu hinterlassen. »Bereits jetzt läßt ihre Kraft nach!«
»Du bist überängstlich«, tadelte der Älteste. »Für uns, die wir die Lords von Smolod sind, strahlt die Sonne in leuchtender Farbenpracht.«
»Das mag im Augenblick so sein, doch was ist, wenn sie dunkel wird? Werdet Ihr in Finsternis und Kälte weiterhin Eure Freuden genießen können?«
Der Älteste achtete nicht mehr auf ihn. Radkuth Vomin war seitwärts in den Morast gesunken und schien seinen Geist ausgehaucht zu haben.
Unentschlossen mit dem Messer spielend, ging Cugel zu der Leiche, um sie zu betrachten. Ein geschickter Schnitt oder auch zwei – und er hätte erreicht, weshalb er hier war. Er beugte sich über den Toten – doch die günstige Gelegenheit war verstrichen. Andere Lords von Smolod stießen Cugel zur Seite. Sie hoben Radkuth Vomin und trugen ihn mit ernster Gemessenheit in seine übelriechende Hütte.
Cugel starrte verlangend durch die offene Tür und dachte über die Aussichten dieser oder jener List nach.
»Laßt Lampen bringen!« rief der Älteste. »Laßt uns Lord Radkuth auf seiner edelsteinbesteckten Bahre ein letztes Mal mit Glanz und Pracht umgeben! Laßt die goldenen Fanfaren von den Türmen erschallen!
Laßt die Prinzessinnen sich in Samt gewanden! Laßt sie ihr Haar öffnen und damit die entzückenden Gesichter bedecken, die Lord Radkuth so liebte! Und nun müssen wir die Totenwache halten! Wer meldet sich?«
Cugel trat vor. »Es wäre mir eine besondere Ehre.«
Der Älteste schüttelte den Kopf. »Das ist ein Privilegium, das Ebenbürtigen vorbehalten ist. Lord Maulfag, Lord Glus, seid ihr bereit, die Wache zu übernehmen?« Zwei Dorfbewohner näherten sich der Bank, auf die man Lord Radkuth Vomin gelegt hatte. »Als nächstes müssen die Vorbereitungen für die Trauerfeierlichkeiten getroffen und die magischen Kuppen auf Bubach Angh übertragen werden, den verdienstvollsten Junker von Grodz. Wer will ihn benachrichtigen?«
»Wieder erbiete ich meine Dienste, um mich wenigstens
Weitere Kostenlose Bücher