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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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schrie Flagg, und dann begann er, die Stufen hinaufzueilen.
    Eine. Drei. Sechs. Zehn.

117
    Peters zitternde Hände machten etwas falsch. Ein Knoten, den er schon tausendmal geübt hatte, fiel jetzt auseinander, und er musste noch einmal von vorn anfangen.
    Lass dir von ihm keine Angst machen.
    Das war idiotisch. Er hatte bereits Angst, höllische Angst. Thomas wäre verblüfft gewesen zu erfahren, dass Peter immer Angst vor Flagg gehabt hatte; Peter hatte sie lediglich besser verbergen können.
    Wenn er dich töten möchte, dann soll ER es selbst tun! Nimm ihm nicht die Arbeit ab!
    Der Gedanke kam aus seinem eigenen Kopf, aber er klang wie die Stimme seiner Mutter. Peters Hand wurde ein wenig ruhiger, und er knotete das Ende des Seils um die Stange.

118
    »Tausend Jahre lang werde ich deinen Kopf an meinem Sattelhorn tragen!«, kreischte Flagg. Weiter, weiter, höher, höher. »Oh, was für eine herrliche Trophäe du sein wirst!«
    Zwanzig. Dreißig. Vierzig.
    Seine Absätze schlugen grüne Funken auf den Stufen. Seine Augen leuchteten. Das Grinsen war reinstes Gift.
    »ICH KOMME, PETER!«
    Siebzig - noch zweihundertdreißig Stufen.

119
    Wenn ihr jemals mitten in der Nacht an einem fremden Ort aufgewacht seid, dann wisst ihr, dass schon die Tatsache furchterregend sein kann, in der Dunkelheit allein zu sein. Jetzt stellt euch vor, wie es ist, in einem dunklen Geheimgang zu erwachen und in ein Zimmer zu sehen, in dem der eigene Vater ermordet worden ist!
    Thomas schrie. Niemand hörte ihn (abgesehen von den Hunden unter ihm, und wahrscheinlich nicht einmal die - sie waren alt und taub und machten selbst zu viel Lärm).
    Nun existierte eine Vorstellung vom Schlafwandeln in Delain - die übrigens auch in unserer Welt erzählt wird. Sie besagt, dass ein Schlafwandler den Verstand verliert, wenn er erwacht, bevor er wieder in seinem Bett ist.
    Vielleicht hatte Thomas diese Legende gehört. Wenn ja, dann konnte er jetzt mit Fug und Recht sagen, dass sie nicht zutraf. Er war ziemlich erschrocken, und er hatte geschrien, aber verrückt wurde er keineswegs.
    Seine anfängliche Angst verging sogar ziemlich schnell - schneller als einige von euch denken werden -, und er sah wieder durch die Löcher. Das mag euch seltsam erscheinen, aber ihr müsst bedenken, dass Thomas einige angenehme Stunden in diesem Gang verbracht hatte, vor der letzten Nacht, in der Flagg dem König den vergifteten Wein gebracht hatte, nachdem Peter gegangen war. Die Freude hatte den bitteren Beigeschmack
der Schuld gehabt, aber hier hatte er sich seinem Vater nahe gefühlt. Nun, da er sich wieder hier befand, befiel ihn eine seltsame Art von Sehnsucht.
    Er sah, dass sich das Zimmer kaum verändert hatte. Die ausgestopften Tiere waren immer noch da - Bonsey, der Elch, Craker, der Luchs, Snapper, der große weiße Bär aus dem Norden. Und natürlich Neuner, der Drache, durch dessen Augen er jetzt sah und über dessen Kopf Rolands Bogen und der Pfeil Feind-Hammer befestigt waren.
    Bonsey … Craker … Snapper … Neuner.
    Ich kann mich an alle ihre Namen erinnern, dachte Thomas verwundert. Und ich erinnere mich an dich, Vater. Ich wünschte mir, du wärst noch am Leben und Peter frei, auch wenn das bedeuten würde, dass an mich überhaupt niemand denkt. Wenigstens könnte ich nachts schlafen.
    Einige der Möbelstücke waren mit weißen Tüchern verhüllt, aber die meisten nicht. Der Kamin war kalt und dunkel, aber es war Holz aufgeschichtet. Thomas sah mit wachsender Verwunderung, dass sogar der Mantel seines Vaters an seinem angestammten Platz neben der Badezimmertür am Haken hing. Der Kamin war dunkel, aber man musste nur ein Streichholz hineinhalten, um ihn hell und warm werden zu lassen; das Zimmer wollte nur, dass sein Vater für es dasselbe tat.
    Plötzlich verspürte Thomas eine seltsame, fast unheimliche Sehnsucht in sich; er wollte in dieses Zimmer gehen. Er wollte das Feuer entfachen. Er wollte den Mantel seines Vaters anziehen. Er wollte ein Glas von seines Vaters Met trinken. Er würde ihn auch dann trinken, wenn er schlecht und bitter geworden war. Er
dachte … er dachte, dass er dort unten würde schlafen können.
    Ein erschöpftes, schüchternes Lächeln dämmerte auf dem Gesicht des Jungen, und er beschloss, es zu tun. Er fürchtete sich nicht einmal vor dem Geist seines Vaters. Er hoffte fast, dass er erscheinen würde. Wenn er kam, konnte er seinem Vater etwas sagen.
    Er konnte seinem Vater sagen, dass es ihm leidtat.

120
    »ICH

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