Die Augenblicke des Herrn Faustini - Roman
Zärtlichkeit gefolgt, die umso tiefer in ihm aufgestiegen war, als er wusste, dass nichts anderes von dieser Frau, von diesem Pferd, von dem Augenblick stillgestellter Zeit übrig war als eine alte vergilbte Fotografie. Doch ahnte er früh, dass durch ihn, der sie betrachtete, das Bild weiterlebte, und in ihm vielleicht auch die längst vergangenen Menschen, die es zeigte. Die Fotografie erschien ihm als ein Kult des Todes und der Toten. Nichts war unnatürlicher, als die Zeit in einem beliebigen Augenblick stillzustellen, sie mittels einer Linse, auf die Tageslicht fällt, das wiederum ein Negativ belichtet, zu überlisten. Wie durch Zauberhand waren so Menschen und Dinge auf späte Betrachter gekommen, die nicht ahnten, dass gerade dieser eine ihrer Augenblicke, an jenem Morgen an der Gare de l’Est, über hundert Jahre bleiben würde, während sie selbst an jenem Morgen nach Hause gegangen waren, den Tag in einem Park vertrödelt hatten und nach einer mehr oder weniger großen Anzahl von Tagen von dieser Erde verschwunden waren. Für den Betrachter der Fotografie aber gingen sie für alle Ewigkeit die Straße entlang, verkaufte die Gemüsefrau ihren Kohl noch immer an jenem Markt, den es längst nicht mehr gab. Das war Zauberei. Lag es nicht allein in der Macht der Götter, die Zeit anzuhalten? Der Mensch hatte die Götter von ihrem Sockel gestoßen und hielt die Zeit nun nach Belieben und hunderttausendfach an allen Ecken und Enden jeder Stadt und jeden Dorfs auf der ganzen Welt an. Herr Faustini spürte, dass er unversehens ins Reich der unbeantwortbaren Fragen geraten war. Wenn man dieses einmal betreten hatte, tat man am besten so, als hätte man es nicht gemerkt, und machte sich aus dem Staub.
Dabei half ihm ein dumpfes Grölen, das das Stimmengewirr unter der Bahnhofskuppel zerriss. Zwei Tauben lösten sich verschreckt aus ihrer Nische auf einem Stahlträger. Herr Faustini sah eine Gruppe von kahlrasierten jungen Männern auf sich zukommen. Ihr Grölen wurde immer lauter, schwoll zum rhythmischen Ruf Deutschland! Deutschland! Deutschland! an, ging in ihrem Jubel unter. Sie warfen ihre fleischigen Arme in die Luft, als würden sie nach einem unsichtbaren Gegner schlagen, der über ihren breiten Köpfen kreiste. Sie trugen schwere Stiefel und lange grüne Jacken. Einer trug eine zerknitterte Deutschland-Fahne unterm Arm, eine Bierkiste in der anderen Hand. Als die Gruppe brüllend an Herrn Faustini vorbeischritt, hätte er sich gerne irgendwo festgehalten, um nicht von der Druckwelle, die ihre raumverdrängende Gegenwart mit sich brachte, zu Boden geworfen zu werden. Sie schienen nicht Gefahr zu laufen, das Reich der unbeantwortbaren Fragen zu betreten.
Herr Faustini wollte eben den Zug nach Mannheim besteigen, als er aus dem Augenwinkel eine weiche Bewegung spürte, die seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf dem Bahnsteig näherte sich schwerbepackt eine Frau, die Herrn Faustini bekannt vorkam. Sie zog einen großen Koffer hinter sich her, von ihrer Schulter hing eine voluminöse Tasche. Und doch ging sie auf eine Weise leicht und elegant, dass Herr Faustini in ihr augenblicklich die Frau mit dem schönsten Gang der Welt wiedererkannte. Er trat zu ihr hin und bot ihr seine Hilfe an, wobei er gleichzeitig über sich selbst staunte, wie rasch er zu einem Menschen der Tat wurde. Die Frau lächelte unvermutet und überließ ihm ihren schweren Koffer. Herr Faustini wollte eben sagen, dass er sie vor kurzem in Neustadt an der Weinstraße gesehen habe, doch er zögerte, denn vielleicht würde sie denken, er wäre ihr gefolgt, hätte sie auf dem Bahnsteig abgepasst. So schluckte er den ungesagten Satz hinunter, wobei seine Lippen für einen Moment denen eines Fisches glichen, den er vor einigen Jahren in einem beleuchteten Glasbecken am Eingang eines Gasthauses gesehen hatte. Der Fisch wartete mit schnappendem Maul darauf, dass ein Gast ihn verspeisen würde. Schaubecken wie dieses waren verschwunden, kein Mensch wollte mehr das Tier sehen, das er im nächsten Augenblick verspeisen würde.
Der ungesagte Satz also drehte sich in Herrn Faustinis Magen mehrmals um und verschluckte seinerseits jeden Gedanken. Die Frau mit dem unnachahmlichen Gang schwebte, stolzierte, federte, wippte, schritt, stöckelte, ging neben Herrn Faustini, der eben fragen wollte, wohin sie fahre, als er auch diesen Satz ungesagt hinunterschluckte. Denn auch dieser Satz schien ihm indiskret, aufdringlich, möglicherweise sogar zudringlich.
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