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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A. J. Kazinski
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Fragen: Hast du geschossen? Hast du jemanden getötet? Immer wichen sie aus. War es wirklich so einfach, dass die Schüsse, die die Soldaten abfeuerten und die die Arterien, Venen und Organe ihrer Feinde in Fetzen rissen, einen ebenso großen Schaden in der Seele der Schützen hinterließen?
    Peter war entlassen worden. Er war als Mann aufgebrochen und als Wrack heimgekehrt. Alexandra hatte das nicht verkraftet. Sie dachte natürlich gleich an die Kinder, sie war schließlich eine Mutter. Ein Soldat schießt, und eine Mutter denkt an ihre Kinder. Vielleicht war sie laut geworden, hatte ihn angeschrien. Dass er unbrauchbar sei, sie im Stich gelassen habe. Und Peter hatte dann getan, was er gelernt hatte: Sind Konflikte nicht auf friedlichem Weg zu lösen, macht man von der Schusswaffe Gebrauch. Alexandra war zu einer Feindin geworden, die man erschießen musste.
    Endlich.
    Endlich hatte Niels das Detail, das er brauchte: Er musste Peter als Soldat ansprechen und an seine Ehre appellieren, an seine Männlichkeit.

5.
    5.
    Murano, Venedig
    Früher Winter – die Hauptsaison für Selbstmorde auf dem gesamten europäischen Kontinent. Aber das hier war kein Selbstmord. Das war Rache. Sonst hätte er sich nicht mit einem Stahldraht erhängt. Schließlich war es weiß Gott kein Problem, hier auf dieser mit Bootsbauern mehr als gesegneten Insel ein Seil zu finden.
    Flavio war draußen, er musste sich übergeben und war zum Kanal gegangen; die Witwe des verstorbenen Glasbläsers war schon lange verschwunden. Sie hatte bei irgendeinem Nachbarn Trost gesucht. Tommaso hörte sie hin und wieder schreien. Draußen vor dem Haus war ein Konzentrat der Inselbewohner zusammengekommen. Ein Betriebsrat der Glasbläserei, ein Mönch aus dem Kloster San Lazzaro, ein Nachbar und ein Kaufmann, wobei Tommaso sich fragte, was dieser Kaufmann hier wollte. Hoffte er darauf, noch eine unbezahlte Rechnung einzutreiben, ehe es zu spät war? Es war unglaublich, was die Finanzkrise mit Männern und ihrem Selbstverständnis anstellte. Als Inselbewohner war man überdies noch stärker gefährdet: Dafür sorgten schon die Isolation und die starre Gesellschaftsordnung. Es war kein Wunder, dass Venedig ganz unbemerkt an die Spitze der italienischen Selbstmordstatistik geklettert war.
    Das Haus: feucht, mit niedrigen Decken und wenig Licht. Tommaso sah aus dem Fenster und erblickte das Gesicht einer Frau. Sie aß ein Sandwich. Schuldbewusst erwiderte sie seinen Blick, lächelte und zuckte mit den Schultern. Es war doch nicht verboten, Hunger zu haben, auch wenn der Glasbläser sich das Leben genommen hatte. Tommaso hörte die Menschen draußen reden. Besonders der Betriebsrat war immer wieder herauszuhören. Er redete über all das billige Glas, das aus Asien importiert und an die Touristen verhökert wurde. Schlechte Kopien, die der lokalen Bevölkerung, die über die Jahrhunderte Glas hergestellt und es zu einer Kunstart hatten werden lassen, die Arbeitsplätze raubten. Es war ein Skandal!
    Tommaso warf wieder einen Blick auf sein Handydisplay. Wo zum Teufel blieben die Bilder?
    Der Glasbläser pendelte leicht hin und her. Tommaso fragte sich, wie lange der Stahldraht ihn noch halten mochte. Wenn der Nackenwirbel gebrochen war, würde der Draht sich bald durch den Hals fressen und den Kopf vom Körper trennen.
    »Flavio!«, rief Tommaso.
    Flavio tauchte in der Tür auf.
    »Du schreibst den Bericht.«
    »Ich kann nicht.«
    »Ach, hör auf. Du schreibst, was ich sage. Du kannst dich ja mit dem Rücken zu uns setzen.«
    Flavio griff einen Stuhl, wendete ihn ab und setzte sich mit dem Gesicht zur feuchten Wand. Im Raum roch es nach Ruß. Als hätte jemand den Kamin mit einem Eimer Wasser gelöscht.
    »Bereit?«
    Flavio hatte seinen Notizblock gezückt und fixierte die Wand.
    Tommaso begann mit dem offiziellen Teil: »Ankunft vor Ort: etwa zwei Uhr nachts. Wir wurden durch einen Notruf der Frau des Glasbläsers, Antonella Bucati, hergerufen. Schreibst du?«
    »Ja.«
    Die Sirenen. Endlich konnte er sie hören. Tommaso atmete erleichtert auf. Das Ambulanzboot schaltete die Sirene aus, als es von der Lagune in den maroden Kanal einbog. Kurz darauf verkündeten das Brummen des Motors und der monotone Versuch der Wellen, das halb verfallene Bollwerk an den Ufern des Kanals zu zerschlagen, die Ankunft des Rettungsdienstes. Das Blaulicht erhellte rhythmisch das Zimmer und erinnerte Tommaso daran, wie dunkel der Winter in Venedig war. Als stähle die Feuchtigkeit das

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