Die Auserwählten
in Luftröhre und Lungen.
»Hilfe«, versuchte er zu rufen. Aber seine Stimme war zu schwach. Niemand hörte ihn. »Hilfe!«
Ling trat auf einen schmalen, feuchten Flur und ging von dort in einen angrenzenden Raum. Orangefarbenes Sonnenlicht drang zaghaft durch das Dachfenster. Er musterte seinen Körper. Es war nichts zu sehen. Arme, Bauch und Brust sahen ganz normal aus. Plötzlich wurde ihm schwarz vor Augen, so dass er für einen Moment die Lider schloss, den Kampf aufgab und in eine Finsternis aus grenzenlosem Unbehagen abtauchte. Dann, als die Schmerzen abebbten, verspürte er plötzlich Ruhe. Sie kamen stoßweise, und jede Attacke überstieg die vorangegangene. Jetzt wurde ihm wieder eine Atempause gegönnt.
Mit zitternden Händen öffnete er die Schublade und schob seine Finger tastend hinein. Endlich fand er, wonach er suchte: einen kleinen, verzierten Taschenspiegel. Er betrachtete sich und sah ein Gesicht voller Furcht. Ling schob seinen Umhang etwas hoch und hielt den Spiegel nach hinten, so dass er einen Blick auf seinen Rücken werfen konnte. Ihm verschlug es den Atem.
»Mein Gott«, flüsterte er und ließ den Spiegel fallen. »Was ist denn das?«
Die einzige Antwort, die er erhielt, war das Klirren des Spiegels, der am Boden zerbrach.
Das altmodische Münztelefon an der Wand sah ganz und gar nicht wie ein rettender Engel aus, aber es war seine einzige Chance. Er schleppte sich zu dem Apparat. Erneut übermannte ihn der Schmerz und zwang ihn innezuhalten. Er schien kein Ende nehmen zu wollen, fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Ling öffnete die Augen und starrte auf das Telefon, gegen dessen Installation er sich seinerzeit mit all seiner Kraft zur Wehr gesetzt hatte. Die Behörden hatten sich aber mit Rücksicht auf die Touristen durchgesetzt – sollte jemandem etwas zustoßen, musste Hilfe herbeigerufen werden können. Aus dem gleichen Grund stand auch die Nummer des Rettungsdienstes mit großen Ziffern neben einer Schale mit Münzen an der Wand. Ling streckte den Arm aus und versuchte, die Schale zu erreichen, doch seine Finger mussten sie loslassen, als er erneut das Gleichgewicht verlor und sich an der Wand abstützen musste. Scherben und Münzen am Boden. Sollte es wirklich eine seiner letzten Handlungen auf dieser Erde sein, sich nach den kleinen, glänzenden Münzen zu bücken, denen zu entsagen er fast sein ganzes Leben gewidmet hatte? Aber er wollte nicht sterben, noch nicht, und hob deshalb mit zitternden Fingern eine Münze auf, steckte sie ins Telefon und wählte die drei Ziffern, die an der Wand geschrieben standen. Dann wartete er.
»Komm schon, komm schon«, flüsterte er mühevoll.
Endlich meldete sich eine Frauenstimme: »Rettungszentrale!«
»Sie müssen mir helfen!«
»Um was geht es? Von wo aus rufen Sie an?«
Die Stimme klang ruhig und gefasst. Fast mechanisch.
»Ich brenne. Ich …«
Ling verstummte und sah sich um. Da war doch jemand, er war sich ganz sicher. Jemand beobachtete ihn. Er rieb sich die Augen, doch es nützte nichts, er konnte niemanden sehen. Wer sollte ihm so etwas antun?
»Ich muss wissen, wo Sie sind«, sagte die Frau.
»Helfen Sie mir …« Bei jedem Wort, das über seine Lippen kam, schoss ein stechender Schmerz von seinem Rücken durch seine Brust in den Mund bis in die geschwollene Zunge.
Die Frau unterbrach ihn freundlich, aber bestimmt. »Wie lautet Ihr Name?«
»Ling. Ling Cedong, ich … Helfen Sie mir! Meine Haut … sie brennt!«
»Herr Cedong …« Sie war jetzt ungeduldig. »Wo befinden Sie sich?«
»Helfen Sie mir!«
Er hielt abrupt inne. Etwas in ihm schien völlig unvermittelt zusammenzubrechen. Als würde die Welt um ihn herum einen Schritt zurücktreten und ihn in einem Zustand der Unwirklichkeit zurücklassen. Die Geräusche verhallten. Das vereinzelte Lachen auf dem Tempelplatz. Und die Stimme im Hörer. Die Zeit stand still. Plötzlich war er in einer neuen Welt. Oder auf der Schwelle zu einer solchen. Aus seiner Nase rann Blut.
»Was geht hier vor?«, flüsterte er. »Es ist so still.«
Im gleichen Moment ließ er den Hörer los.
»Hallo!«, tönte die mechanische Stimme. »Hallo?«
Aber Ling hörte sie nicht mehr. Er taumelte ein paar Schritte Richtung Fenster und sah die drei Gläser, die auf der Fensterbank standen. In einem war Wasser – vielleicht half das ja. Er streckte seine Hand danach aus, bekam es aber nicht richtig zu fassen. Stattdessen fiel es in die Tiefe und zersplitterte auf den Steinen.
Die Mönche
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