Die Auserwählten
Lippen. Vielleicht war es etwas unbeholfen, aber es wirkte – das spürte er bis tief in seinen Bauch.
Er hatte ein Geschenk, hatte es in Zeitungspapier gewickelt. »Was ist das?« Sie war bei dem Kuss ein bisschen rot geworden.
»Mach es auf!«
Mit kindlichem Eifer riss sie das Papier herunter. Ihre Stimmung kippte, als sie sah, was es war. Das Magazin der Pistole.
»Ganz ruhig, ich habe die Patronen herausgenommen.«
Sie nahm es in die Hand und drehte es seufzend hin und her.
»Ich war überzeugt davon, dass ich sterben würde«, sagte sie. »Dass nur das Sinn machte.«
»Wann hast du deine Meinung geändert?«
Sie sah ihn an. »Weißt du was? Das habe ich nicht. Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob tatsächlich ich das Magazin aus der Waffe genommen habe. Oder …«
Sie brachte den Satz nicht zu Ende.
»Ich bringe dich nach draußen«, sagte sie.
***
Sie hatten in den letzten Tagen mehrfach darüber geredet: Was war eigentlich dort oben auf dem Dach geschehen? Jedes Mal, wenn Niels sie gefragt hatte, wer das getan hatte, hatte Hannah ihn korrigiert: »Nicht wer , Niels. Was – was hat das getan?«
Doch auf diese Frage hatte Niels keine Antwort.
***
Ein langer, weißer Flur. Ein Gewimmel von Ärzten, Krankenschwestern, Patienten und Angehörigen. Ein Laut übertönte alle anderen: das Weinen eines Babys. Niels blieb stehen und sah sich um. Eine junge Mutter – müde, aber glücklich – lief mit ihrem Neugeborenen über den Flur. Sie kam Hannah und ihm entgegen. Er warf einen Blick auf das kleine Geschöpf, als sie vorbeigingen. Vielleicht stieß er deshalb mit der Krankenschwester zusammen.
»Entschuldigung.«
Sie wollte weitergehen, aber er hielt sie zurück.
»Darf ich Sie etwas fragen?«
Sie drehte sich um.
»Wie kann ich herausfinden, ob letzten Freitag gegen Sonnenuntergang ein Kind geboren worden ist?«
Sie dachte nach. »Dafür müssen Sie in die Frauenklinik, zum Kreißsaal.«
»Danke.«
Hannah zog ihn am Ärmel.
»Was denn?«, fragte er.
»Niels, geht das nicht zu weit?«
»Warum? Glaubst du nicht, dass die Stafette weitergeht?«
***
Niels klopfte an, doch als niemand antwortete, betrat er einfach das Zimmer. Hannah blieb draußen auf dem Flur.
Blumen, Schokolade, Kuscheltiere und Babysachen. Die Mutter lag im Bett und schlummerte mit ihrem Baby im Arm. Der junge Vater saß schnarchend neben dem Bett auf einem Stuhl. Das Paar passte perfekt zu Leons Beschreibung der beiden, die in dem dunklen Lieferwagen gekommen waren. Die Mutter blickte auf.
»Herzlichen Glückwunsch«, waren die ersten Worte, die Niels in den Sinn kamen.
»Danke.« Sie sah ihn verwundert an. »Kennen wir uns?«
Niels zuckte mit den Schultern und betrachtete den Kleinen, der langsam aufwachte.
»Ein Junge?«
»Ja.« Sie lächelte. »Ein kleiner, ungeduldiger Kerl. Er kam einen Monat zu früh.«
»Würden Sie mir etwas versprechen?«
Sie sah ihn neugierig an.
»Wenn er … also wenn er anfängt älter zu werden und irgendwann Probleme mit dem Reisen bekommt, würden Sie mir versprechen, dass Sie dann nicht böse auf ihn sind?«
»Was? Ich weiß nicht, ich glaube, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Versprechen Sie es mir einfach.«
Niels verließ das Zimmer.
21.
21.
Die erste Reise. Die meisten erinnern sich daran – das Kribbeln im Bauch bei dem Abenteuer, wenn das Flugzeug von der Startbahn abhob. All die neuen Dinge: die Stewardessen, das Essen, die kleinen Becher, das Plastikservice und das Zubehör, das so frappierend an ein Puppenhaus erinnert. Wie man seine Sorgen abstreift und das Ziel und den Kurs anderen und nicht sich selbst überlässt.
Venedig
Der Geruch der Lagune war unvergleichlich, es war ein Geruch, der bei Niels keinerlei Assoziationen weckte, ihn an nichts erinnerte, was er kannte. Einladend und doch auch muffig und abgestanden. Blauschwarzes Brackwasser, das dennoch so verlockend war, dass Lord Byron in den Kanal gesprungen war – das hatte in dem Führer gestanden, den Niels im Flugzeug gelesen hatte.
Die meiste Zeit des Fluges hatte er aber aus dem Fenster gesehen. Als sie über den Alpen waren, hatte er geweint, lautlos. Es war gut, dass Hannah nicht bei ihm war. Sie hätte ihm erzählt, dass die Alpen nichts anderes seien als zwei aufeinandergestoßene Kontinentalplatten und dass das Mittelmeer in einigen Hundert Millionen Jahren, wenn Afrika Europa eingeholt hatte, verschwunden sein würde. So lange konnte Kathrine nicht warten, weshalb er sich ein
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