Die Auserwählten
Zeit gewinnen und er sich etwas beruhigen konnte. Dabei konnte es sich um ganz banale Dinge handeln. Eine neue Flasche Whiskey oder eine Zigarette. Aber Niels ging schon lange nicht mehr nach Handbuch vor.
»Sofie!«
Niels rief noch einmal. »Sofie!«
»Ja«, kam es unter dem Bett hervor.
»Dein Vater und ich müssen jetzt miteinander reden. Von Mann zu Mann. Wir wären dafür gern allein.«
Niels sprach bestimmt, sehr bestimmt, und ließ Peter bei seinen Worten keine Sekunde aus den Augen. Sofie antwortete nicht. Niels war jetzt Peters Offizier, sein Vorgesetzter, sein Alliierter.
»Tu, was dein Vater und ich sagen! Geh raus! Nach draußen ins Treppenhaus!«
Endlich hörte Niels, dass sie sich unter dem Bett rührte.
»Du darfst uns nicht ansehen! Geh nach draußen!«, sagte Niels laut.
Er hörte die kleinen Schritte durch das Zimmer nach draußen verschwinden. Dann wurde die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen. Zurück blieben Niels, Peter und die Leiche einer Teenagerin.
Niels taxierte den Soldaten. Peter Jansson, siebenundzwanzig Jahre. Ausgemustert. Ein waschechter, dänischer Held. Peter hatte das Gewehr jetzt umgedreht und die Mündung an sein Kinn gedrückt.
Der Soldat schloss die Augen. Niels glaubte fast, Leon draußen auf dem Flur flüstern zu hören: »Lass es ihn tun, Niels. Soll dieser Trottel sich doch selbst das Hirn aus dem Schädel pusten.«
»Wo wollen Sie beerdigt werden?«
Niels war vollkommen ruhig. Er sprach mit dem Soldaten wie mit einem engen Vertrauten.
Peter öffnete die Augen, ohne Niels anzusehen. Er sah nach oben, vielleicht war er gläubig. Niels wusste, dass viele der ausgesandten Soldaten häufiger den Beistand des Feldpastors suchten, als sie sich einzugestehen bereit waren.
»Wollen Sie verbrannt werden?«
Der Soldat umklammerte die Waffe noch fester.
»Gibt es etwas, das ich für Sie übermitteln soll? Ich bin ja der Letzte, der sie lebendig gesehen hat.«
Keine Reaktion von Peter. Er atmete schwer. Die letzte Handlung – sich selbst das Leben zu nehmen – erforderte offensichtlich mehr Mut, als seine Frau und Tochter zu erschießen.
»Peter, möchten Sie, dass ich jemanden für Sie aufsuche? Jemanden, dem Sie eine letzte Nachricht zukommen lassen möchten?«
Niels sprach mit Peter, als stünde dieser bereits mit einem Fuß im Himmelreich. An der Schwelle zur nächsten Welt.
»Über die Dinge, die Sie im Irak erlebt haben? So etwas sollte kein Mensch je erleben.«
»Nein.«
»Und jetzt wollen Sie weiter.«
»Ja.«
»Das verstehe ich gut. Gibt es etwas, für das man Sie in Erinnerung behalten soll? Etwas Gutes?«
Peter dachte nach. Niels sah, dass ihm ein Gedanke gekommen war. Zum ersten Mal dachte Peter an etwas anderes als daran, sich und seine Familie umzubringen und endlich diese Scheißwelt zu verlassen. Deshalb fuhr Niels fort: »Peter! Antworten Sie mir! Sie haben etwas Gutes getan. Was war das?«
»Es gab da eine Familie … in einem Dorf vor Basra, das unter heftigem Beschuss stand«, begann Peter, doch Niels sah ihm an, dass seine Kräfte nicht ausreichen würden.
»Eine irakische Familie, die Sie gerettet haben?«
»Ja.«
»Sie haben Leben gerettet. Nicht nur genommen. Daran wird man sich erinnern.«
Peter ließ das Gewehr sinken. Senkte wie ein getroffener Boxer für einen Moment die Fäuste.
Niels reagierte blitzschnell. Er war in einem Satz bei dem Soldaten und ergriff den Gewehrlauf. Peter sah Niels überrascht an. Er hatte nicht vor loszulassen, doch Niels schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht.
»Lassen Sie los!«, befahl er Peter.
Als er das Röcheln hörte, glaubte Niels zuerst, es käme von Peter. Aber der saß zusammengesunken am Boden und hatte aufgegeben. Dann drehte Niels sich um, das Gewehr in der Hand. Das Mädchen auf dem Bett bewegte sich.
»Leon!«, rief Niels.
Die Beamten stürmten die Wohnung. Leon vorneweg wie immer. Sie warfen sich auf den Soldaten, obgleich dieser keinen Widerstand leistete. Die Rettungssanitäter polterten die Treppe herauf.
»Sie lebt!«, sagte Niels und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen. Jemand stand mit einer nach Polizeihund stinkenden Decke bereit und legte sie ihm um die Schultern. In der Tür blieb er noch einmal stehen und sah sich um. Peter weinte jetzt, hatte die Kontrolle über sich vollends verloren. Aber Tränen waren gut, das wusste Niels. Gab es Tränen, gab es Hoffnung.
Die Sanitäter hatten das Mädchen auf eine Trage gelegt und waren wieder auf dem Weg
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