Die Auswahl. Cassia und Ky
sieht denn nun das vorausberechnete Endergebnis aus?«, frage ich sie.
»Spielt das eine Rolle?«, fragt sie lächelnd zurück. »Es ist das, was passieren wird. Das, was Sie tun werden. Aber ich kann es Ihnen erzählen, wenn Sie wollen.«
Doch auf einmal will ich es gar nicht mehr wissen. Ich will nichts von dem hören, was sie zu sagen hat, keine von den Voraussagen erfahren, die sie glaubt, treffen zu können. Die Funktionäre wissen nicht, dass Xander das Artefakt versteckt hat, dass Ky schreiben kann, dass Großvater mir Gedichte geschenkt hat. Was gibt es sonst noch, wovon sie nichts ahnen?
»Sie sagten, das alles sei von vornherein so geplant gewesen«, bemerke ich spontan, instinktiv, und tue so, als wollte ich bloß ganz sichergehen. »Sie haben gesagt, Sie selbst hätten Kys Daten in den Paarungspool eingespeist.«
»Stimmt«, antwortet sie. »Das haben wir getan.«
Diesmal sehe ich ihr ins Gesicht, als sie mir antwortet, und da erkenne ich es. Ich sehe die Andeutung eines Muskelzuckens, eine leichte Augenbewegung, höre den Anflug des Gekünstelten in ihrer Stimme. Sie ist es nicht gewöhnt zu lügen. Sie ist nie eine Aberration gewesen, daher fällt es ihr nicht leicht. Sie hat nicht viel Übung darin. Es gelingt ihr nicht, eine so unbewegte Miene aufzusetzen wie Ky, wenn er am Spieltisch sitzt und weiß, was er zu tun hat – ob es besser ist, zu gewinnen oder zu verlieren.
Obwohl man ihr erklärt hat, wie sie spielen soll, weiß sie nicht genau, welche Karten sie auf der Hand hat.
Sie weiß nicht, wer Ky in den Paarungspool eingespeist hat.
Aber wenn es nicht die Funktionäre gewesen sind, wer dann?
Wieder mustere ich sie. Sie weiß es nicht, und sie hat sich verraten. Wenn das Fast-Unmögliche bereits einmal geschehen ist – dass ich mit zwei Jungen gepaart wurde, die ich schon kannte –, dann kann es wieder geschehen.
Ich kann ihn finden.
Ich stehe auf und wende mich zum Gehen. Ich glaube, Regen in der Luft zu riechen, obwohl kein Wölkchen am Himmel steht, und mir fällt ein, dass ich noch immer einen Teil von Kys Geschichte besitze.
KAPITEL 31
X ander sitzt auf der Treppe vor unserem Haus.
Das macht er oft im Sommer, und auch seine Haltung ist ganz typisch: die Beine ausgestreckt, die Ellbogen auf die Stufe hinter ihm gestützt. Der Schatten, den er im Sommer wirft, ist kleiner als er, eine dunklere, kompaktere Version von Xander. Er beobachtet mich, während ich den Weg entlanggehe, und als ich näher komme, sehe ich, dass der Schmerz in seinen Augen immer noch da ist, ein Schatten hinter dem Blau.
Fast wünschte ich, die rote Tablette hätte mehr als nur die letzten zwölf Stunden aus Xanders Gedächtnis gelöscht. So dass er sich nicht mehr an das erinnern könnte, was ich zu ihm gesagt habe, und daran, wie weh es ihm getan hat. Aber eigentlich wünsche ich es mir nicht wirklich. Denn obwohl die Wahrheit uns beide geschmerzt hat, weiß ich nicht, wie ich mich sonst Xander gegenüber hätte verhalten sollen. Es war alles, was ich ihm geben konnte, und er hat es verdient.
»Ich habe auf dich gewartet«, sagt Xander. »Ich habe das mit deiner Familie gehört.«
»Ich war in der Stadt«, erkläre ich.
»Komm, setz dich zu mir«, sagt Xander. Ich zögere – meint er das ernst? Will er wirklich, dass ich mich zu ihm setze, oder hilft er mir, Theater zu spielen, falls jemand zusieht? Xander sieht mich unverwandt an. »Bitte.«
»Bist du dir sicher?«, frage ich.
»Ja«, sagt er, und ich weiß, dass er es ehrlich meint. Er ist traurig. Ich bin es auch. Wir kämpfen darum, die Entscheidungen für unser Leben selbst treffen zu können, und vielleicht gehört dazu auch, die Art des Schmerzes selbst zu wählen. Seit dem Paarungsbankett ist nicht viel Zeit vergangen, aber wir sind nicht mehr dieselben. Man hat uns die schönen Kleider genommen, unsere Artefakte und unseren Glauben an das Paarungssystem. Ich stehe reglos vor ihm und denke daran, wie viel sich verändert hat und wie wenig wir gewusst haben.
»Du bringst es immer wieder fertig, mich zuerst zum Reden zu bringen, oder?«, fragt Xander mit dem Anflug eines Lächelns im Gesicht. »Und bei unseren Diskussionen hast du dann das letzte Wort.«
»Xander«, sage ich, setze mich hin und rutsche zu ihm. Er legt den Arm um mich, ich lehne den Kopf an seine Schulter, und er legt seinen Kopf auf meinen Scheitel. Ich seufze, so tief, dass es fast wie ein Schauder ist, vor lauter Erleichterung. Wie gut es sich anfühlt, so im Arm
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