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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Nachmittagssonne, in den klarblauen Himmel; wie wenn dem riesigen, das untere Stadtbild beherrschenden Bauwerk eine entsetzlich blutende Wunde in den Rücken gerissen worden wäre, schaute es aus. Der ganze Platz unter dem Dom war voll Mauerbrocken, und die Leute, die gleich uns von allen Seiten herbeigelaufen waren, bestaunten das exemplarische, zweifellos ungeheuer faszinierende Bild, das für mich eine Ungeheuerlichkeit als
Schönheit
gewesen war und von dem für mich kein Erschrecken ausgegangen war, aufeinmal war ich mit der absoluten Brutalität des Krieges
konfrontiert
, gleichzeitig von dieser Ungeheuerlichkeit
fasziniert
und verharrte minutenlang, wortlos das noch in Zerstörungsbewegung befindliche Bild, das der Platz mit dem kurz vorher getroffenen und wild aufgerissenen Dom für mich als ein gewaltiges, unfaßbares gewesen war, anschauend. Dann gingen wir, wo alle andern hingingen, in die Kaigasse hinüber, die von Bomben beinahe zur Gänze zerstört war. Lange Zeit standen wir, zur Untätigkeit verurteilt, vor den riesigen qualmenden Schutthaufen, unter welchen, wie es hieß, viele Menschen, wahrscheinlich schon als Tote, begraben waren. Wir schauten auf die Schutthaufen und die auf den Schutthaufen verzweifelt nach Menschen Suchenden, die ganze Hilflosigkeit der plötzlich unmittelbar in den Krieg Hineingekommenen hatte ich in diesem Augenblick gesehen, den vollkommen ausgelieferten und gedemütigten Menschen, der sich urplötzlich seiner Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit bewußt geworden ist. Nach und nach waren immer mehr Rettungsmannschaften gekommen, und wir erinnerten uns plötzlich unserer Anstaltsordnung und kehrten um, aber wir gingen dann doch nicht in die Schrannengasse, sondern in die Gstättengasse, aus welcher ebenso große Zerstörungen wie in der Kaigasse gemeldet worden waren. In der Gstättengasse, in dem uralten Hause links vom Mönchsbergaufzug, das zu dieser Zeit noch Verwandten von mir gehörte, die zweifellos zur Zeit des Angriffs in ihrem Hause gewesen waren, habe ich, von dem Haus meiner Verwandten ab, fast alle Gebäude vollkommen vernichtet gesehen, ich hatte bald die Gewißheit, daß meine Verwandten, ein über zweiundzwanzig Nähmaschinen und ihre Opfer herr-schender Schneidermeister und seine Familie, lebten. Auf dem Weg in die Gstättengasse war ich auf dem Gehsteig, vor der Bürgerspitalskirche, auf einen weichen Gegenstand getreten, und ich glaubte, es handle sich, wie ich auf den Gegenstand schaute, um eine Puppenhand, auch meine Mitschüler hatten geglaubt, es handelte sich um eine Puppenhand, aber es war eine von einem Kind abgerissene Kinderhand gewesen. Erst bei dem Anblick der Kinderhand war dieser erste Bombenangriff amerikanischer Flugzeuge auf meine Heimatstadt urplötzlich aus einer den Knaben, der ich gewesen war, in einen Fieberzustand versetzenden
Sensation
zu einem
grauenhaften Eingriff der Gewalt
und zur Katastrophe geworden. Und als wir dann, wir waren mehrere, von diesem Fund vor der Bürgerspitalskirche erschrocken, über die Staatsbrücke und gegen alle Vernunft nicht in das Internat zurück, sondern zum Bahnhof hinausgelaufen und in die Fanny-von-Lehnert-Straße hineingegangen sind, wo Bomben in das Konsumgebäude gefallen waren und viele Konsumangestellte getötet hatten, und wie wir hinter dem Eisengitter der Grünanlage des sogenannten Konsums reihenweise mit Leintüchern zugedeckte Tote gesehen haben, deren Füße nackt auf dem staubigen Gras lagen, und wir zum erstenmal Lastautos fahren gesehen haben, die riesige Holzsärgestapel in die Fanny-von-Lehnert-Straße transportierten, war uns augenblicklich und endgültig die Faszination der Sensation vergangen. Ich habe bis heute die im Vorgartengras des Konsumgebäudes liegenden mit Leintüchern zugedeckten Toten nicht vergessen, und komme ich heute in die Nähe des Bahnhofs, sehe ich diese Toten und höre ich diese verzweifelten Stimmen der Angehörigen dieser Toten, und der Geruch von verbranntem Tier- und Menschenfleisch in der Fanny-von-Lehnert-Straße ist auch heute und immer wieder in diesem furchtbaren Bild. Das Geschehen in der Fanny-von-Lehnert-Straße ist ein entscheidendes, mich für mein ganzes Leben verletzendes Geschehen als Erlebnis gewesen. Die Straße heißt auch heute noch Fanny-von-Lehnert-Straße, und der Konsum steht wiederaufgebaut an der gleichen Stelle, aber kein Mensch weiß heute, wenn ich die Leute, die dort wohnen und (oder) arbeiten, frage, etwas von dem, das ich damals in

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