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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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aufzuwecken, nur daß ich eine Bestrafung zu gewärtigen hätte. In der Nacht waren keine Bomben gefallen. Die Hausordnung im Internat war völlig über den Haufen geworfen, weil immer wieder Alarm gewesen war, gleich was für eine Tätigkeit, sie war bei Alarm sofort abgebrochen worden, und alles ist in die Stollen gegangen, noch während des Sirenengeheuls bewegte sich der Menschenstrom auf die Stollen zu, und vor den Eingängen spielten sich immer entsetzliche Szenen der Gewalttätigkeit ab, hinein drängten die Menschen mit der ganzen ihnen angeborenen und nicht mehr zurückgehaltenen Brutalität genauso wie heraus, und die Schwachen waren sehr oft ganz einfach niedergetrampelt worden. In den Stollen selbst, in welchen die meisten schon ihre angestammten Plätze hatten, waren immer dieselben zusammen, die Menschen hatten Gruppen gebildet, diese Hunderte von Gruppen hockten stundenlang auf dem Steinboden, und manchmal, wenn die Luft ausging und sie reihenweise ohnmächtig wurden, fingen alle zu schreien an, und dann war es auch oft wieder so still, daß man glaubte, diese Tausende in den Stollen wären schon tot. Auf bereitgestellten langen Holztischen waren die Ohnmächtigen abgelegt, bevor sie aus den Stollen hinausgeschleppt worden sind, und mir sind die vielen völlig nackten Frauenkörper auf diesen Tischen noch in Erinnerung, die von Sanitäterinnen und Sanitätern und sehr oft auch von uns selbst unter Anleitung massiert worden sind, um sie am Leben zu erhalten. Diese ganze ausgehungerte und bleiche Todesgesellschaft in den Stollen war von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht gespenstischer. In den Stollen in einer nichts als angstvollen und hoffnungslosen Finsternis hockend, redete diese Todesgesellschaft auch noch immer vom Tod und von nichts sonst, alle bekanntgewordenen und selbsterlebten Kriegsschrecken und Tausende von Todesbotschaften aus allen Richtungen und aus ganz Deutschland und Europa waren hier in den Stollen von allen immer mit großer Eindringlichkeit besprochen worden, während sie hier in den Stollen saßen, breiteten sie in der Finsternis, die hier herrschte, hemmungslos den Untergang Deutschlands und die mehr und mehr zur allergrößten Weltkatastrophe sich entwickelnde Gegenwart aus und hörten damit nur auf in totaler Erschöpfung. Sehr oft waren alle im Stollen von einem fürchterlichen, alles in ihnen niederschlagenden Erschöpfungszustand erfaßt worden, und zum großen Teil lagen sie in langen Haufenreihen eingeschlafen an den Wänden, zugedeckt von ihren Kleidungsstücken und oft schon gänzlich unbeeindruckt von den da und dort hör- und sichtbaren Sterbezuständen ihrer Mitmenschen. Die meiste Zeit waren wir Zöglinge in dieser Zeit in den Stollen, an Lernen, gar Studieren, war bald nicht mehr zu denken gewesen, aber der Internatsbetrieb war krampfhaft und krankhaft aufrecht erhalten worden, obwohl wir beispielsweise sehr oft erst um fünf Uhr früh aus den Stollen in das Internat zurückgekommen waren, sind wir doch nach Vorschrift schon um sechs wieder aufgestanden und in den Waschraum und sind pünktlich um halb sieben im Studierzimmer gewesen, in totaler Erschöpfung war aber an Studieren im Studierzimmer nicht mehr zu denken gewesen, und das Frühstücken war sehr oft nichts anderes als schon wieder der Aufbruch in die Stollen, auf diese Weise sind wir oft tagelang gar nicht mehr in die Schule und zu einem Unterricht gekommen. So sehe ich mich in dieser Zeit beinahe nurmehr noch durch die Wolf-Dietrich-Straße in die Stollen gehen und aus den Stollen durch die Wolf-Dietrich-Straße zurück in das Internat, immer in Scharen, und die zu immer unregelmäßigeren Zeiten stattfindenden, sich auch noch von Tag zu Tag verschlechternden Mahlzeiten waren nur Wartezeiten auf das neuerliche Aufsuchen der Stollen gewesen. War es bald beinahe überhaupt nicht mehr zum Unterricht in der Andräschule gekommen, weil die Schule schon bei der sogenannten
Vorwarnung
geschlossen und die Schüler aufgefordert worden waren, die Schule zu verlassen und in die Stollen zu gehen, und jeden Tag gegen neun Uhr war ja schon Vorwarnung gewesen, und der Unterricht um acht hatte auch immer nurmehr daraus bestanden, auf die Vorwarnung um neun Uhr zu warten, und kein Lehrer hatte sich mehr in einen tatsächlichen Unterricht eingelassen, alles wartete nur darauf, daß Vorwarnung ist und daß in die Stollen gegangen wird, die Schultaschen sind gar nicht mehr ausgepackt worden, lagen nur griffbereit auf den

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